Unterwegs… in New York City

Jean-Michel Basquiat – Teil 1: „Ich werde berühmt werden.“

 

“I want to make paintings that look as if they were made by a child.”

(Jean-Michel Basquiat)

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Jean-Michel Basquiat (1960 – 1988), circa 1985 (Photo by Rose Hartman/Getty Images)

„Es war Basquiats Abend“, verkündete das Auktionshaus Sotheby’s im vergangenen Jahr anlässlich der Versteigerung eines Werkes des aus New York stammenden Künstlers Jean-Michel Basquiat. Für 110 Millionen Dollar, den höchsten Preis, der jemals für die Arbeit eines US-Künstlers erzielt wurde, wechselte es den Besitzer. Das Gemälde sei „roh und unzensiert“ und eines der Meisterwerke des Künstlers, schrieb die ehrwürdige New York Times. Erworben wurde das unbetitelte Werk, das einen mit Öl-Stift und Sprühfarbe gemalten, bunten Totenkopf auf hellblauem Untergrund zeigt, von dem japanischen Unternehmer Yusaku Maezawa, der ankündigte, das Bild an Institutionen weltweit zu verleihen, bevor es in einem Museum in seiner Heimatstadt Chiba in Japan ausgestellt werde.

 

Am 22. Dezember 1960 wurde Jean-Michel Basquiat, der nur zwei Jahrzehnte später die Kunstwelt in Atem halten sollte, als er als erster afroamerikanischer Künstler den internationalen Durchbruch in der Kunstwelt schaffte und heute als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt, in einem Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. Sein Vater Gerard Basquiat stammte aus Haiti, während seine Mutter Matilde, deren Familie ihre Wurzeln in Puerto Rico hat, ebenfalls in Brooklyn das Licht der Welt erblickt hatte.


Bereits als kleines Kind zeigte Basquiat eine bemerkenswerte Vorliebe für das Zeichnen. Er bekritzelte jedes Blatt Papier, das er in der Wohnung fand, wobei er sich oftmals von Cartoons, die er im Fernsehen sah, inspirieren ließ. Seine Mutter, die ein ausgeprägtes Faible für Kunst und Design besaß, lehrte ihn bereits vor seiner Einschulung in eine private katholische Schule das Lesen und Schreiben und förderte insbesondere das künstlerische Interesse ihres Sohnes. Gemeinsam mit ihr besuchte der kleine Jean-Michel häufig das Brooklyn Museum, das Metropolitan Museum of Art sowie das Museum of Modern Art, vor dessen Eingang ich soeben stehe.

Museum of Modern Art, Photo: Mario Graß

Museum of Modern Art, Photo: Mario Graß

Das Museum of Modern Art ist sicherlich eines der spannendsten und renommiertesten New Yorker Museen, in dem die vielleicht weltweit eindrucksvollste Sammlung zeitgenössischer Kunst zu bestaunen ist. Cezanne, Picasso, van Gogh, Matisse, Gauguin, Chagall, Warhol, Dali … die Liste der bedeutenden Namen ließe sich schier endlos fortsetzen und Matilde Basquiat wäre zweifellos äußerst stolz, wenn sie wüsste, dass sich ihr Sohn Jean-Michel in dieses Namensverzeichnis eingereiht hat.

Auch in der Schule zeigte sich alsbald dessen Faible für kreative Tätigkeiten. Zudem war Jean-Michel ein begeisterter Leser, sowohl von englischen als auch spanischen und französischen Texten – Sprachen, die er, dank seiner kunst- und bildungsbeflissenen Mutter, bereits als Kind fließend beherrschte.
Nachdem ich einige der ausladenden Treppen des Museums genommen habe, stehe ich vor einem unbetitelten Werk von Basquiat, das er 1981, im Alter von 21 Jahren, gemalt hat. Ich blicke auf eine Zeichnung, kaum größer als ein DinA4-Blatt, auf dem sich expressive schwarze und rote Linien kreuzen, Wellenlinien und flüchtig gezeichnete Sterne zu finden sind und scheinbar willkürlich Symbole platziert wurden. Drei männliche Figuren, die allesamt archaische Waffen zu tragen scheinen, sind schematisch und mit einfachen Linien dargestellt. Das Bild würde wohl von den allermeisten unvoreingenommenen Betrachtern für eine Kinderzeichnung gehalten werden und dies ist durchaus beabsichtigt. Basquiat betonte mehrfach, dass ihn Kinderzeichnungen mehr interessieren und faszinieren als manch hochgelobtes Werk namhafter Künstler. „Ich möchte Bilder gestalten, die aussehen als hätte sie ein Kind gemalt.“


Im Alter von sieben Jahren ereignete sich ein dem Anschein nach traumatisches – zumindest ein einschneidendes – Erlebnis im Leben vom kleinen Jean-Michel, als er, während er auf der Straße Ball spielte, von einem Auto angefahren wurde. Er brach sich den Arm, erlitt mehrere innere Verletzungen und war gezwungen sich die Milz entfernen zu lassen. Einen Monat verbrachte er im Krankenhaus, wo er von seiner Mutter eine Ausgabe von „Grey´s Anatomy“, ein Buch über die menschliche Anatomie, dem die gleichlautende Fernsehserie ihren Titel entlieh, geschenkt bekam. Das Buch hinterließ erkennbar einen bleibenden Eindruck auf Basquiat, denn der Einfluss zeigte sich in seinen späteren Werken, die oftmals mit anatomischen Zeichnungen versehen waren.
Ein Jahr später trennten sich seine Eltern und Basquiat verblieb, wohl auch aufgrund einer fortschreitenden psychischen Erkrankung seiner Mutter, bei seinem Vater. Das Verhältnis der beiden erwies sich als konfliktträchtig, was zur Folge hatte, dass Basquiat mehrfach von zu Hause weglief. Auch in der Schule geriet er zunehmend in Schwierigkeiten, was zu mehrfachen Schulwechseln führte. „Jean-Michel wurde immer ungehorsamer. Er hat mir eine Menge Ärger bereitet“, erinnert sich sein Vater. Im Alter von 15 Jahren lief Jean-Michel erneut von zu Hause weg und verbrachte etwa zwei Wochen am Washington Square Park, einem seiner bevorzugten Orte in der Stadt. „Ich saß dort rum und habe Drogen eingeworfen“, erinnert sich Basquiat.

Washington Square Park; Foto: Mario Graß

Washington Square Park; Foto: Mario Graß

Der knapp 4 Hektar große Park war einst eine Sumpflandschaft, diente bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als Friedhof, später als Duell- und Hinrichtungsstätte und ist heute einer der beliebtesten Plätze der Stadt. Zur Hundertjahrfeier des Amtsantritts George Washingtons als erster Präsident der Vereinigten Staaten entwarf der Architekt Stanford White einen hölzernen Triumphbogen, der auf derart positive Resonanz stieß, dass er durch eine Marmorversion ersetzt wurde, die noch heute den Park an seiner Nordseite ziert. Der Ort zieht nach wie vor ein vornehmlich junges Publikum an. Insbesondere Studenten der New York University, die sich um den Washington Square erstreckt, halten sich gerne hier auf. Den zwielichtigen Ruf von einst, denn Basquiat war nur einer von vielen Jugendlichen, die hier herumlungerten und Drogen konsumierten, hat der Washington Square Park mittlerweile eingebüßt und ist zu einer verblassenden Erinnerung geworden.
Basquiat wechselte schließlich zur City-as-School, einer progressiven Schule in Manhattan, die sich vorrangig Schülern widmete, die trotz offenkundiger Befähigung und ausreichendem Leistungsvermögen Probleme im traditionellen Schulsystem hatten. Dort schloss er Freundschaft mit Al Diaz, einem an Graffiti interessierten Jugendlichen, mit dem ihn eine geradezu ungestüme kreative Leidenschaft sowie die Neigung sich mit impulsivem Verhalten in Schwierigkeiten zu bringen verband. Gemeinsam entwickelten sie einen Comic für die Schülerzeitung, in dem die Geschichte eines Sinnsuchers erzählt wird, der sich die Pseudoreligion SAMO, eine Lifestylereligion ohne jeglichen ethischen Anspruch, erschuf.
Al Diaz ist bis heute künstlerisch aktiv und versieht New Yorker Subwaystationen mit seinen feinsinnigen Anagrammen. An Basquiat erinnert er sich: „Er hatte Sinn für Stil, war sehr clever und extrem unabhängig. Rückblickend erkenne ich, dass uns eine Leidenschaft für Sprache verbunden hat. Wir liebten es, mit Sprache zu spielen und unseren eigenen Slang zu erfinden.“
Auch der Name „SAMO“ basiert auf einem Spiel mit Sprache. Basquiat erinnerte sich, dass der Begriff entstand, als er mit Diaz Marihuana geraucht hatte und dabei wiederholt die Floskel „Same old shit“ aufkam. Neben der wörtlichen Bedeutung ist „shit“ ein gängiger Ausdruck für Marihuana. Zudem steht die Redewendung „same old shit“ in der afro- amerikanischen Umgangssprache für die unveränderten rassistischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten. Schließlich entwickelten die beiden für die Phrase „same old shit“ das Akronym „SAMO“.

Basquiat und Diaz nahmen die Gesellschaft als durch und durch kapitalistisch und eigennützig wahr. Der scheinheilige ethische Anstrich, den sie sich unter anderem durch Religion gebe, habe kaum praktische Relevanz. Basierend auf dieser Grundüberzeugung begannen sie witzig-philosophische Aphorismen auf Häuserwände zu sprühen, die sie mit „SAMO“ signierten und erregten damit schnell Aufmerksamkeit, da sich ihre Hinterlassenschaften erheblich von den damals gängigen Kritzeleien unterschieden, die auf Zügen und Wänden in Manhattan hinterlassen wurden und die Kunstszene rätselte, wer hinter den Botschaften stehen könnte.

SOHO, Foto: Mario Graß

SOHO, Foto: Mario Graß

Um mit ihren Grafittis die Aufmerksamkeit von Kunstliebhabern zu gewinnen, brachten Basquiat und Diaz diese bewusst im Umfeld der angesagten Galerien in Soho an. Der New Yorker Stadtteil war einst ein Industriebezirk und das bis Mitte des 20. Jahrhunderts völlig heruntergekommene Lagerhausviertel wäre um Haaresbreite gänzlich zerstört worden, hätten nicht Denkmalschützer den Wert der dortigen Gusseisenarchitektur erkannt. Es folgte eine Sanierung der bestehenden Gebäude, in die vermehrt Künstler einzogen, da die Mieten zunächst äußerst gering waren und die großen Räume mit den riesigen Fensterfronten hervorragend als Ateliers geeignet waren. Großartige Lofts entstanden, die heute schlicht unbezahlbar sind. Als treibende Kraft kann der Künstler George Maciunas angesehen werden, der mehrere der damals preiswert zu habenden Fabrikgebäude, mit dem Ziel Künstlern adäquate Arbeits- und Lebensräume zu vermitteln, aufkaufte. Der Bezirk entwickelte sich somit nach und nach zu einem Künstlerviertel.


1978 beendete Basquiat, ohne einen Abschluss erlangt zu haben, seine Schullaufbahn, da er die feste Überzeugung erlangt hatte, dass diese für ihn fortan eine Zeitverschwendung darstellen würde. Ebenso verließ er endgültig sein Zuhause und versicherte seinem Vater zum Abschied: „Ich werde berühmt werden.“ „Er hat tatsächlich geplant, ein Star zu werden“, erinnert sich Gerard Basquiat.
Jean-Michel Basquiat lebte zunächst abwechselnd bei verschiedenen Freunden und verdiente ein wenig Geld, indem er handbemalte Postkarten und T-Shirts an Passanten auf der Straße und vor den Türen des Museums of Modern Art verkaufte.

Ich habe mittlerweile die Abteilung für „Pop Art“, jener Kunstrichtung, die zu der Zeit in der Basquiat geboren wurde, die Kunstszene beherrschte, im Museum of Modern Art erreicht. Motive aus Comics, dem Fernsehen und der Werbung wurden aufgegriffen, ähnlich wie es Basquiat als Kind getan hatte. Personifiziert wurde der Stil von Andy Warhol, den Basquiat verehrte und vor dessen – ein Jahr nach Basquiats Geburt entstandenem – Bild der Campbells Suppendosen, die Warhol in das kollektive Bewusstsein Amerikas strömen ließ, ich nun stehe.

Andy Warhol – Campbells Soup Cans – Museum of Modern Art Foto: Mario Graß

Andy Warhol – Campbells Soup Cans – Museum of Modern Art
Foto: Mario Graß

Eines Tages geschah, was Basquiat sich in seiner Fantasie sicherlich wiederholt ausgemalt hatte. In einem Restaurant in der Prince Street traf er seinen Helden Andy Warhol, der dort gemeinsam mit Henry Geldzahler, einem Kurator für zeitgenössische Kunst und Beauftragten für kulturelle Angelegenheiten im Dienste von Ed Koch, dem damaligen Bürgermeister von New York, zu Mittag aß. Selbstbewusst trat Basquiat an deren Tisch und bot seine gemalten Postkarten zum Verkauf an. Während Geldzahler den jungen Mann abschätzig behandelte und sehr barsch auf dessen Erscheinen reagierte, erwarb Warhol höflich eine der angebotenen Postkarten.

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New York Film Festival 2008 – Alexis Adler; Photo: Rob Kim/Getty Images

Basquiat ging zu jener Zeit eine Beziehung mit Alexis Adler ein, mit der er vorübergehend das Appartement eines Freundes bezog, für den das Arrangement jedoch schon bald untragbar wurde, da Basquiat nicht davon abzuhalten war, Wände, Möbel und weitere Gegenstände innerhalb der Wohnung mit seinen Zeichnungen zu versehen. Eine Angewohnheit, für die er in seinem Bekanntenkreis berüchtigt war, bemalte er doch scheinbar wahllos alles, was ausreichen lange still hielt.
Basquiat und Adler bezogen ein Apartment in der 527 East 12th Street – Basquiats erste feste Adresse seit er sein Elternhaus verlassen hatte. Adler, die bis zum heutigen Tag in dieser Wohnung lebt, erinnert sich lebhaft an Basquiats Eigenart: „Er benutzte alles, was er in die Finger bekommen konnte als Leinwand. Echte Leinwände konnte er sich gar nicht leisten.“
Basquiat streifte durch die angesagten Clubs der Stadt, wie den „CBGB OMFUG“ (kurz: „CBGB“), der als eine der Geburtsstätten des Punks gilt. 1973 gründete Hilly Kristal den Club, dessen Name ein Akronym für “Country, Bluegrass, Blues and other Music for uplifting Gormandizers” darstellt. Der vollbärtige Clubbesitzer gab jungen New Yorker Szenebands eine Chance und was sich daraus entwickelte, hat die Geschichte der Rockmusik maßgeblich beeinflusst. Auch wenn in der Rückschau London als das Zentrum des Punks dargestellt wird, starteten doch viele der ersten Bands, die diesem Genre zugerechnet werden können, ihre Karrieren in New York, wovon die allermeisten – wie zum Beispiel die Urgesteine des Punks „The Ramones“ oder Patti Smith – auf der kleinen Bühne des CBGB entdeckt wurden. Später fanden Bands wie Blondie und die Talking Heads hier ihr erstes Publikum und als die noch völlig unbekannten „The Police“ mit ihrem Sänger und Bassisten Sting 1978 in einem gemieteten Lieferwagen zum ersten Mal durch die USA tourten, landeten auch sie im CBGB und ernteten erste Anerkennung.

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Outside CBGBs on Valentine’s Day, New York, February 14, 1983.
Photo by Jack Vartoogian/Getty Images

Zur abend- und nächtlichen Lieblingsadresse entwickelte sich für Basquiat der Muddclub, der sich in den späten 1970er Jahren zu einem pulsierenden Szenetreffpunkt entwickelte. In einer Dachgeschosswohnung in der 77 White Street in Manhattan, trafen sich dort viele angehende Kultpersonen aus Manhattan, wie die Künstler Keith Haring und Nan Goldin, die Musiker David Byrne, Arto Lindsay, Lydia Lunch, Blondie und Madonna. Bei angesagter Musik und Livekonzerten in den Genres Punk, New Wave und experimenteller Musik, der sich auch Basquiat mit seiner gegründeten Band „Grey“, ebenfalls eine Anspielung auf das Anatomiewerk, das er als Kind von seiner Mutter geschenkt bekam, zugehörig fühlte, schloss Basquiat dort Bekanntschaften mit zahlreichen Leuten aus der Kunstszene.
Seine persönlichen Kontakte verhalfen Basquiat 1981 zu einem Gastauftritt in dem Blondie-Videoclip „Rapture“. Der Musiksender MTV hatte im selben Jahr sein Programm gestartet und Blondie erkannte als eine der ersten Bands, die Rolle die Musikvideos in den folgenden Jahren bei der Eroberung eines Massenpublikums spielen würden.

East Village; Foto: Mario Graß

East Village; Foto: Mario Graß

Zu jener Zeit waren Wohnungen im südlichen Manhattan noch erschwinglich und insbesondere das East Village, beeinflusst von der Hippie- und aufkommenden Punk-Bewegung, entwickelte sich zum Mekka für alternative Lebensformen, die aus Musik, Mode und Kunst innovative ästhetische Verbindungen schufen. Einst war das East Village ein Teil der Lower East Side und nicht als eigenständiger Stadtteil wahrnehmbar. Erst in den 1960er Jahren erhielt das heutige East Village seine eigene Identität, als sich die ersten Beatniks, Hippies, Künstler und Musiker hier niederließen. In den nächsten Jahren entwickelte sich eine ausgesprochen lebendige Kulturszene, die mit der Punkmusik, der Hippiebewegung, dem Musical Hair und Künstlern wie Andy Warhol & The Velvet Underground oder später Keith Haring und Jean-Michel Basquiat ihre Höhepunkte erlebte.

East Village; Foto: M.Graß

East Village; Foto: M.Graß

Die Punkmusik erlebte zu jener Zeit ihren Gipfel, während bereits der Rap, unter anderem mit seinem Urvater Grandmaster Flash, der bereits in den frühen siebziger Jahren in düsteren Clubs in der New Yorker Bronx bislang Undenkbares mit Schallplatten und Plattenspielern anstellte, am Musikhorizont auftauchte. Zunächst unabhängig von dieser neuartigen Musik- und Modewelle entwickelte sich das sogenannte Graffiti-Writing, dessen Grundidee darin lag, seinen Künstlernamen quer durch die Stadt auf Wänden und Mauern zu hinterlassen, bevor es mit der aufkommenden Rapmusik zur Hip-Hop-Kultur verschmolz. Die eigentlichen Wurzeln des Graffiti-Writings reichen zwar streng genommen weit zurück in der Menschheitsgeschichte, aber in New York trat es seinen Siegeszug in der bis heute bekannten Form an, als ein griechischstämmiger New Yorker sein Kürzel „Taki 183“ erfolgreich über ganz Manhattan verbreitete. Künstler wie Keith Haring, den Basquiat Ende der 1970er Jahre kennenlernte und bis zu seinem Tod mit ihm verbunden blieb, erkannte das Potenzial dieser Ausdrucksform und entwickelte sie in den kommenden Jahren zur anerkannten Kunstform. Ihn reizte es, seine Ideen nicht wie bislang üblich in Galerien und Museen zu verstecken, sondern sie auf die Straße und somit unmittelbar zu den Menschen zu bringen und so begann auch er die Wände in New Yorker Subwaystationen zu verzieren, bevor sein rasanter Aufstieg erfolgte und er zum gefeierten Kunst-Superstar avancierte.
Basquiat saugte die neuen kulturellen Strömungen – Rap, Graffiti, Breakdance – nicht nur begierig auf, er war selbst Teil davon, woran das Werk, vor dem ich nun stehe, erinnert. Ich blicke auf das von Basquiat gestaltete Cover einer in der Szene als legendär und wegweisend geltenden Maxisingle. Basquiat hatte Bekanntschaft mit dem DJ, Musiker und Graffiti-Künstler Rammellzee, einem der ersten aktiven Grafitti-Aktivisten in New York und Schlüsselfigur der neuen Kultur, geschlossen. Den Song „Beat Bop“, dessen dunkles Cover vor mir an der Museumswand hängt, hat Basquiat zu Beginn der 1980er Jahre gemeinsam mit Rammellzee und K-Rob produzierte. Ursprünglich sollte auch Basquiat als Rapper auf dem Track zu hören sein, doch da seinen beiden Mitstreitern dessen Text nicht gefiel, wurde das Stück ohne ihn aufgenommen. Das Ergebnis war ein typisches Beispiel für die New Yorker Hip-Hop-Musik der frühen 1980er Jahre – ein zehnminütiger Track, auf dem Basquiats Freund Al Diaz die abwechslungsreichen Percussions übernahm. Es ist ein episches, psychedelisches Stück, ohne Refrain und erkennbarer Struktur, mit einem treibenden Bass, auf dem der Song basiert und für den laut K-Rod Basquiat verantwortlich zeichnete. Die Aufnahme hat sich maßgeblich auf die Musik von Künstlern wie Cypress Hill oder den Beastie Boys niedergeschlagen, die ihren Song „B-Boys makin´ with the Freak Freak“ ihren Wegbereitern gewidmet haben. Das in limitierter Auflage erschienen Cover, von dem das Museum of Modern Art ein Exemplar besitzt, wird heute unter Sammlern für vierstellige Beträge gehandelt und ist in Basquiats typischem Stil gestaltet. Ein von der Graffitikunst beeinflusstes Chaos aus Zeichnungen von Knochen, Kronen, Explosionen und Textfragmenten, das im Gegensatz zu seinen zumeist farbenfrohen Leinwandarbeiten jedoch in Schwarz und Weiß gehalten ist.

Ein Artikel im Village Voice, einer 1955 vom Schriftsteller und Enfant terrible der amerikanischen Literaturszene Norman Mailer gegründeten und bis heute existierenden Zeitung, identifizierte Basquiat und Diaz als die Urheber der auf großes Interesse gestoßenen und mit dem Namen SAMO signierten Graffitis. Kurz darauf beendeten die beiden ihre Zusammenarbeit und hinterließen an den Häuserwänden im East Village und in Soho die nüchterne Botschaft: „SAMO is dead“.
Für Basquiat begann künstlerisch ein neuer Abschnitt. 1981 entstand sein Gemälde „Cadillac Moon“, in dem das Wort „Samo“ durchgestrichen ist und das erstmals von „Jean-Michel Basquiat“ als Urheber signiert wurde. Schon bald sollte dieser Name in aller Munde sein und das Versprechen, das der aufmüpfige junge Mann einst seinem Vater gegeben hatte, wahr werden.

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