„We can be Heroes forever and ever”
2.Teil

Plattencover – „Heroes“
„David Bowie hat die regionale Kultur
wirklich kennenlernen wollen.
So hat er immer gearbeitet
und Berlin war der ideale Ort, für das,
was er damals wollte.“
(Tony Visconti)
Über Wochen hatte David Bowie gemeinsam mit Brian Eno in den Berliner Hansa-Studios an einem achtminütigen Instrumentalstück gefeilt. Zweifellos – es hatte Potenzial. Der Sound stimmte ebenso wie der treibende Groove und die ansteigende Lautstärke und Intensität sorgten zudem für eine spannungsreiche Dynamik. Doch die Musiker und Soundtüftler ahnten, dass noch mehr aus dieser Komposition herauszuholen sein müsste und ließen kurzerhand den Gitarristen Robert Fripp einfliegen. Kaum war dieser in Berlin gelandet und in das Studio geeilt, versah er sorgfältig den Parkettboden des Aufnahmeraumes mit Klebebändern, griff zu seinem Gitarrenkoffer, stöpselte sein Instrument an die Effektgeräte und fügte dem Track, während er die Markierungen abschritt, drei lang gezogene, sich stetig wiederholende Töne hinzu. Bowie und Eno hatten recht behalten und mit Fripp die richtige Wahl getroffen. Als Bowie kurz darauf die zündende Idee für einen Text kam, war sein vermutlich bekanntester Song geboren.
Ich blicke auf ein Schwarz-weiß-Porträt von David Bowie, das vor meinen Füßen inmitten des eindrucksvollen Blumenmeers liegt und mit der Inschrift „Helden sterben nicht – sie leben ewig“ versehen ist. Gemeinsam mit etwa 40 Personen, die gekommen sind um David Bowie die letzte Ehre zu erweisen, stehe ich vor dem Haus, in dem der vor fünf Tagen verstorbene Sänger zwischen 1976 und 1978 gelebt hat. Die Stimmung ist ruhig, gedrückt und andächtig. Es wird eher geflüstert als gesprochen, manche der Anwesenden haben Tränen in den Augen und selbst Passanten bleiben mit ihren Einkaufstüten für einen Moment stehen, schauen traurig oder zumindest mit einem gewissen Respekt auf die Blumen, bevor sie ihren Weg fortsetzen. Mein wandernder Blick fällt auf ein durch eine Prospekthülle geschütztes Blatt Papier mit der Aufschrift „And the Stars look very different today“ – ein Zitat aus dem Song „Space Oddity“, dem ersten Hit in Bowies langer Karriere, als unvermittelt die sphärischen Klänge von „Blackstar“, dem Titelsong des letzten Albums, das nur wenige Tage vor seinem Tod erschienen ist, die Stille durchbrechen. Ein Fan sorgt von nun an mit einem portablen CD-Player sowie zwei kleine Lautsprechern, die er auf dem Bürgersteig platziert hat, für eine angemessene musikalische Untermalung der Szenerie.
„I´m a blackstar“, singt Bowie mit monotoner Stimme – ein schwarzer Stern, ein Stern, der nicht (mehr) leuchtet. Das Thema Sterne zieht sich wie ein roter Faden durch seine Karriere, seit er 1969 die Kunstfigur des Major Tom erschaffen hat und mit „Space Oddity“ seinen ersten Hit landete. Bowie erzählt die Geschichte eines Raumfahrers, der die Kommunikation mit der Erde abbricht und sich fortan alleine durch das All treiben lässt. Viele Jahre später nimmt er das Motiv in seinem Song „Ashes to Ashes“ wieder auf. Major Tom kehrt zurück, ihm geht es gut und er nimmt Kontakt mit seiner einstigen Bodenstation auf. Doch dort betrachtet man ihn als einen heruntergekommenen Junkie. „We know Major Tom’s a junkie / Strung out in heaven’s high / Hitting an all-time low“. Gleich zu Beginn des zehnminütigen Videos zu „Blackstar“ taucht nun erneut der Astronaut, eines der Leitmotive in Bowies Karriere, auf. Doch als das Visier seines Helmes vorsichtig hochgeschoben wird, kommt dahinter ein Schädel zum Vorschein, der sich im Verlaufe des Videos zu einer Reliquie entwickelt. Bowie, der sich während seiner jahrzehntelangen Karriere immer wieder neu darzustellen wusste und dabei Grenzen zwischen Genres, Stilen und Geschlechtern einriss, scheint selbst seinen Tod künstlerisch inszeniert zu haben.
Angelehnt an seine Faszination für das Weltall wurde im vergangenen Jahr ein Asteroid nach ihm benannt. Irgendwo zwischen Mars und Jupiter kreist der „342843 Davidbowie“ auf seiner langen Bahn um die Sonne.
Während seiner Zeit in Berlin hat sich David Bowie intensiv mit deutscher, expressionistischer Kunst beschäftigt und auch selbst oft zum Pinsel gegriffen. Die in seiner Wohnung entstandenen Porträts und Landschaften sind unzweideutig von dieser Kunstrichtung beeinflusst und stellen eher Stimmungen als Szenen dar und auch das Cover seines zweiten in Berlin fertiggestellten Albums („Heroes“) ist von Kunstwerken, die Bowie im Berliner Brücke-Museum betrachtet hat, inspiriert. Ein dort ausgestelltes Gemälde von Erich Heckel, auf dem er den nervenkranken Ernst Ludwig Kirchner mit einer verkrampften Armhaltung dargestellt hat, beeindruckte Bowie offenkundig sehr und regte ihn zu dem berühmt gewordenen Foto an. Aber auch seine Herangehensweise an das Schreiben von Songtexten hat sich während dieser Zeit stark gewandelt. Er erzählt keine Geschichten mehr, sondern skizziert Stimmungen. „Ich möchte keine narrativen Sachen mehr machen“, sagte er seinerzeit. Er habe dies zunächst als ein Experiment betrachtet, an dem er zunehmend Gefallen gefunden habe. „Irgendwann war ich dann ganz enthusiastisch so zu schreiben.“
Mit diesem Enthusiasmus widmete sich Bowie bereits kurz nach Erscheinen seines Albums „Low“ der Produktion des Nachfolgealbums. Er arbeitete ausgesprochen schnell und wirkte, nach Aussage einiger Beobachter aus seinem Umfeld, bereits wesentlich heiterer und gelöster als noch wenige Monate zuvor.
Ich betrachte noch eine Weile die hinterlassenen Trauerbekundungen, bis ich mich wieder auf den Weg mache und nach nur ein paar Schritten die Bar „Neues Ufer“, in der es sich einige junge Menschen bei einem Glas Wein gemütlich gemacht haben, passiere. Ich vermute, dass die meisten von ihnen eben noch in der Kälte vor Bowies einstiger Haustür gestanden haben, denn auch dieser Ort erinnert an die Zeit Bowies in Berlin.
1977 eröffnete die Bar unter dem Namen „Anderes Ufer“ und stellte damals ein Novum dar, denn es war die erste Schwulenbar in Deutschland, vielleicht sogar in Europa, deren Fenster nicht mit blickdichten Vorhängen versehen waren und potenzielle Gäste nicht nach versteckten Eingängen suchen oder ein geheimes Klingelzeichen kennen mussten, um Einlass zu erhalten. Die Betreiber wollten in einer demokratischen, aufgeklärten Welt offen schwul leben. Folglich gab es hier nichts zu verstecken oder zu verheimlichen. Jeder Gast, egal welcher sexuellen Orientierung, war willkommen. Nina Hagen, Marianne Rosenberg und Rio Reiser waren ebenso gelegentlich zu Gast wie auch David Bowie, der hier zuweilen auf dem Weg ins Studio sein Frühstück einnahm oder abends beim Bier den Tag ausklingen ließ. Eines Nachts hörte er in seiner Wohnung das Splittern von Glas, eilte auf die Straße und stellte fest, dass jemand die Scheiben der Bar eingeworfen hatte. Bowie erwies sich als guter Nachbar und hielt die Nacht über hinter der zerbrochenen Glasfront Wache bis der Glaser eintraf, dessen Rechnung er obendrein beglich.
Nun mache ich mich auf den Weg zu den Hansa-Studios, in denen Bowie während seiner Zeit in Berlin wegweisende Musik produziert hat und in dem heute, im Rahmen einer Trauerfeier, Besuchern die Türen offenstehen.
Ich trete durch die gläserne Eingangstür, neben der ebenfalls Blumen und brennende Kerzen hinterlegt wurden und betrete das Foyer, in dem hinter Glasscheiben ausgestellte Fotos daran erinnern, dass ich mich an einem Ort befinde, an dem Musikgeschichte geschrieben wurde. In den frühen 1970er Jahren wurden hier vorrangig erfolgreiche Schlagerplatten produziert bis David Bowie kam und dem Studio internationales Renommee verlieh. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten folgten ihm Bands und Musiker wie Depeche Mode, Marillion, Nick Cave, R.E.M. oder U2, oftmals, ganz so wie David Bowie als er 1976 erstmals die Hansa-Studios betrat, mit der Absicht, musikalisch neue Wege zu wagen.
Diese hatte Bowie bereits bei seinem letzten Album („Low“) beschritten und dies sollte sich auch auf der kommenden Platte fortsetzen. Wie bereits der Vorgänger beginnt auch „Heroes“ mit einem undefinierbaren Geräusch, gefolgt von einer unzusammenhängend wirkenden, sich hinsichtlich Intensität und Lautstärke steigernden Kombination aus Klaviertönen, elektronischen Sounds sowie einer einsetzenden Gitarre, woraus sich schließlich der Song „Beauty and the Beast“ entwickelt. In den folgenden Minuten folgt ein Sammelsurium an musikalischen Ideen sowie ein nervös und angespannt klingender Bowie. Der Sound wirkt kalt und unterschwellig böse. Der Song ist „in seiner ganzen Art etwas schizophren“, witzelte Bowie später. Der Text wird oftmals als ein Rückblick auf Bowies extreme Stimmungsschwankungen der vergangenen Jahre, verbunden mit seinem starken Kokainkonsum, gedeutet, wobei Zeilen wie „Thank god heaven left us standing on our feet“ darauf hindeuten, dass er dankbar zu sein scheint, diese Phase weitestgehend unbeschadet überstanden zu haben.
Die allermeisten Stücke des Albums sind schnell, spontan und improvisierend entstanden. Robert Fripp, jener Gitarrist, den Bowie und Eno kurzfristig einfliegen ließen, spielte seine Gitarrenparts auf dem Album innerhalb von nur drei Tagen ein und erinnert sich: „Wenn Du mit Leuten wie Bowie und Eno mithalten willst, musst Du schnell sein.“ Laut Produzent Visconti ist lediglich der Titelsong ansatzweise konventionell geschrieben worden. Visconti erinnert sich, dass Bowie oftmals lediglich ein paar Zeilen, die ihm gerade durch den Kopf gingen, eingesungen habe, um im nächsten Schritt, nachdem er sich das Ergebnis angehört hatte, einige weitere Zeilen hinzuzufügen. Wie der Produzent in der Rückschau einräumt, habe ihn dies an den Rand der Verzweiflung getrieben und er hätte sich wohl auch von keinem anderen Künstler eine derartige Herangehensweise gefallen lassen, sondern diesen angehalten, zunächst den Song zu Ende zu schreiben, um im Anschluss daran, mir der Aufnahme zu beginnen. Doch Bowie war zu der Zeit von dieser Arbeitsweise beflügelt, bei der das „Schreiben“ von Stücken weniger eine bewusste Handlung als vielmehr ein Zustand war.
Mit „Joe the Lion” folgt ein atemloser, psychotisch wirkender Song, der kaum weniger ungewöhnlich klingt als das Einstiegsstück und bei dem mitunter der Eindruck entsteht, die einzelnen Musikspuren laufen in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Auch Bowie selbst singt in ständig wechselndem Tempo – mal wirkt es als lasse er ganze Zeilen aus, während sich seine Worte an anderer Stelle zu überschlagen scheinen. Der Text sei, laut Produzent Visconti, in weniger als einer Stunde nahezu spontan entstanden und beinhaltet mehrere Anspielungen auf den Künstler Chris Burden.
Die Zeile „A couple of drinks on the house an‘ he said, `Tell me who you are if you nail me to my car” erinnert an eine Kunstperformance, bei der sich Burden, in einer Art Kreuzigungsszene, auf das Dach eines VW-Käfers nageln ließ. Bowie amüsierte sich zeitlebens köstlich über den Künstler und seine oftmals physischen wie psychischen Grenzen auslotenden Aktivitäten. „Einmal hat er ein Maschinengewehr konstruiert,“ erinnert sich Bowie kichernd. „Vor einem Stuhl stand ein Gestell auf dem die 45er befestigt war und genau auf den Kopf desjenigen zielte, der auf dem Stuhl Platz genommen hatte. Auf einem Schild war zu lesen: `Dieses Gewehr hat genau eine Kugel und ist so konstruiert, dass diese irgendwann zwischen jetzt und in 100 Jahren abgefeuert wird´.“ Alleine bei dieser Beschreibung konnte sich Bowie kaum halten vor Lachen. „Es war deine Entscheidung, ob Du dich für ein, zwei Sekunden auf den Stuhl setzt,“ fügte er sichtlich amüsiert hinzu. Viele von Burdens Kunstaktionen gingen in eine ähnliche Richtung, beispielsweise als er die Statik eines Gebäudes derart veränderte, dass es jeden Moment einstürzen konnte. Im Keller legte er eine Gasse an, durch die das Gebäude unterquert werden konnte, während es zu jeder Sekunde zusammenzustürzen drohte. Wann immer man Bowie auf diese Kunstaktionen ansprach, zerriss es ihn förmlich vor Lachen. Das Austarieren von Grenzen, die Gewissheit, dass nichts sicher ist, waren gewissermaßen auch seine Themen – das gilt sowohl für seinen Lebensstil und dies spiegelt sich auch in seiner Musik wieder.
Über eine geschwungene, breite Treppe gelange ich in den ersten Stock, wo ich bereits im Flur auf eine beeindruckende Menschenmenge treffe. Eine lange Warteschlange hat sich vor dem Kondolenzbuch gebildet, in dem sich jeder Anwesende eintragen darf. Doch mich zieht es zunächst in den sogenannten „Meistersaal“, aus dessen Flügeltüren die dramatischen Klänge von „Warszawa“, einem der Instrumentalstücke auf dem Album „Low“, an mein Ohr dringen.
Es ist ein ungeheuer bunt gemischtes Publikum, bestehend aus Fans jeglichen Alters, das sich unter der hohen Decke des Meistersaals versammelt hat und gebannt auf die Großleinwand, auf der Bilder aus David Bowies langer Karriere gezeigt werden, schaut. Sowohl die Fotos als auch die Songs des verstorbenen Künstlers, die ununterbrochen erklingen, spiegeln eindrucksvoll Bowies enorme und oft zitierte Wandelbarkeit wieder. Auf der Bühne haben die Organisatoren der Trauerfeier eine Art Altar errichtet. Ein großformatiges, gerahmtes und mit einer Trauerschleife versehenes Bild zeigt einen glücklich wirkenden David Bowie. Unmittelbar davor sorgen weiße Kerzen und Blumenbuketts, bestehend aus weißen Rosen, für eine angemessene Atmosphäre.
In diesem Saal hat Bowie mit seiner Band vor nunmehr fast 40 Jahren die Musik seiner „Berliner Alben“ eingespielt. Getrennt durch eine Wand konnte Produzent Tony Visconti im Regieraum die Vorgänge im Meistersaal lediglich auf einem Bildschirm an der Wand beobachten, wofür das nötige Equipment zuvor im nahegelegenen Esplanadehotel, in dem es einen komplett eingerichteten Filmraum gab, der jedoch nicht mehr genutzt wurde, erstanden wurde. Das Esplanadehotel musste vor einigen Jahren dem nach dem Mauerfall neu gestalteten Potsdamer Platz weichen und ist mittlerweile unmittelbar am Landwehrkanal, gut 2 km westlich vom ursprünglichen Standort entfernt, neu eröffnet worden. Doch seit Bowie Berlin verlassen hat, sind, wie ich gleich mit eigenen Augen sehen werde, weitere entscheidende Veränderungen in dieser Stadt geschehen. Ich verlasse vorübergehend den Meistersaal und gelange über einen kurzen Flur zu dem Ort, an dem einst Tony Visconti, Brian Eno und David Bowie an den Reglern des Mischpults am gewünschten Sound gefeilt haben. Der Raum wird bereits seit Jahren nicht mehr als Regieraum genutzt und wirkt heute fast verwaist. Ich trete an das Fenster und blicke ernüchtert auf eine dunkelrote Backsteinwand – ein Zeichen des Wandels, den Berlin in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat. Als David Bowie aus genau diesem Fenster schaute, fiel sein Blick noch auf die Berliner Mauer sowie einen Wachturm der DDR. Als er vor dieser Kulisse ein sich küssendes Pärchen erblickte, war die Inspiration zu einem seiner größten Hits geboren.
Schon in den Wochen zuvor hatten Bowie, Brian Eno und Tony Visconti mit der Arbeit an dem Stück begonnen. Wie bei vielen Songs des Albums hatten sie die Methode angewendet, Tracks nach und nach aus mehreren Tonspuren aufzubauen, um dann, sobald sie mit dem Grundgerüst zufrieden waren, relativ spontan den Text und die Melodie hinzuzufügen. Im Fall von „Heroes“ hatte Bowie der Band eine Akkordfolge vorgegeben, aus der die Musiker ein achtminütiges Instrumentalstück mit zunehmender Intensität kreierten, dem Brian Eno mittels seines EMS Synthesizers einen zittrigen Klangeffekt hinzufügte. Da Bowie mit dem Stück zwar grundsätzlich zufrieden war, aber dennoch das Gefühl hatte es benötige noch einen besonderen Kick, wurde der eingangs erwähnte Robert Fripp eingeflogen, der, angeblich ohne den Track zuvor überhaupt gehört zu haben, die charakteristischen Gitarrentöne hinzufügte, denen Brian Eno im Anschluss noch den letzten Feinschliff verlieh, indem er aus den drei Tönen einen Sound erschuf, der zwischen stetigem Aufbäumen und Vergehen pendelt und der, trotz aller technischer Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte, bislang live auf der Bühne in dieser Intensität nicht erreicht wurde.
Als allgemeine Zufriedenheit bezüglich der Musik herrschte, bat Bowie sämtliche Musiker und Techniker das Studio für eine Weile zu verlassen und ihn alleine zu lassen, denn noch immer fehlte dem Song ein Text. Er zog sich in den Regieraum, in dem ich jetzt stehe, zurück, blickte aus dem Fenster und sah jenes sich küssende Pärchen. „Von allen Orten, an denen man sich in Berlin treffen kann, warum sucht man sich ausgerechnet eine Bank unter einem Wachturm an der Mauer aus?“, fragte sich Bowie und ihm sei der Gedanke gekommen, dass die beiden womöglich „der Affäre einen Anstrich von Heldenhaftigkeit“ verleihen wollten. Lange Zeit galten die beiden Protagonisten als ein unbekanntes Paar, doch Jahre später gestand Tony Visconti, der zu jener Zeit noch verheiratet war, dass Bowie dies nur vorgab, um ihn zu schützen, was Bowie vor einigen Jahren auch bestätigte. Tatsächlich soll es sich bei dem Pärchen um den Produzenten und Antonia Maaß gehandelt haben, die zur gleichen Zeit mit ihrer Band in einem anderen Teil der Hansa-Studios arbeitete, sich mit Visconti anfreundete und auf mehreren Songs von „Heroes“ als Backgroundsängerin zu hören ist. Eine weitere Inspiration für den Text von „Heroes“ sei laut Bowie ein Gemälde von Otto Müller gewesen, das er im Brücke-Museum gesehen habe. Das Motiv sei ähnlich. Es zeige ein Liebespaar, das sich im Schatten einer Gartenmauer küsst.
Nach knapp zwei Stunden hatte Bowie den Text fertiggestellt und seine Crew in das Studio zurückbeordert. Visconti stellte drei Mikrofone – das erste unmittelbar vor Bowie, ein weiteres in sechs Metern und das letzte in fünfzehn Metern Entfernung – auf, die er während Bowie sang nach und nach öffnete und damit der ohnehin grandiosen Gesangsperformance, die sich vom Flüstern zum Schreien steigert, eine atemberaubende Dimension verlieh. Brian Eno erinnert sich, dass er, während er Bowies ungeheuer intensiven Gesang hörte, entgeistert gewesen sei, denn bereits seit Tagen habe er, wann immer sie an dem Stück gearbeitet hätten, das Wort „heroisch“ im Kopf gehabt.
Ich kehre wieder zurück in den Meistersaal, der sich seit den 1970er Jahren aufgrund seiner außerordentlichen Akustik, aber auch dank seines besonderen Ambientes, einen Namen in der internationalen Musikwelt gemacht hat und komme gerade rechtzeitig, denn soeben betritt Eduard Meyer, Bowies einstiger Toningenieur in den Berliner Hansa-Studios, die Bühne und hält eine bewegende Rede. „Ich bin hier um Ihnen beizustehen und ich hoffe, sie stehen mir bei“, sagt er sichtlich bewegt, bevor er auf seinem mitgebrachten Cello seinen damaligen Part im Song „Art Decade“ spielt, einem der Instrumentalstücke auf der LP „Low“, auf deren zweiter Seite David Bowie nahezu vollständig auf Worte verzichtet hat.
Nicht wenige werden damals erleichtert reagiert haben, als sie feststellen durften, dass Bowie offenbar die Lust am Singen zurückgewonnen hatte und angesichts der Ausdruckskraft seiner Stimme, die er auf „Heroes“ so meisterlich einzusetzen weiß, wäre alles andere auch ein Jammer gewesen.
Dem hymnischen Titelsong folgt mit „Sons Of The Silent Age“ ein ruhiger, melancholischer Song, bevor das Tempo mit „Blackout“ wieder enorm angezogen wird.
Der Song wirkt ähnlich schizophren, panisch und gebrochen wie die ersten beiden Stücke und besticht, neben dem innovativen Gitarrenspiel von Robert Fripp, durch das donnernde Schlagzeug von Dennis Davis. Dessen Instrument wurde bei der Produktion auf der Bühne, auf der eben noch Eduard Meier stand, platziert. Visconti entschied sich dafür, den Schlagzeugsound relativ pur zu belassen und nur wenig zu bearbeiten, da der Klang in dem großen Saal bereits perfekt wirkte. „Was sie auf ´Heroes´ hören ist der Sound von Davis, wie er live in dem Raum geklungen hat“, bekräftigt Visconti und erinnert sich daran, „welch verrückte Einwürfe [etwa nach 0:58 Minuten sowie bei Minute 2:02, Anm. d. Autors] er bei Blackout beigesteuert hat und dabei immer exakt den Takt gehalten hat.“ Angesicht dessen Fähigkeiten hat Visconti seinerzeit Davis den Titel „human jazz metronom“ verliehen.
„Blackout“ ist eines der Lieder, deren Text spontan, während der Aufnahmen, entstanden ist. Die Zeilen klingen impulsiv und mitunter geradezu zufällig, wobei auch Anspielungen an Bowies soeben endgültig gescheiterte Ehe herauszulesen sind. Als seine Frau in Schöneberg aufgetaucht war, kam es zu einem lautstarken Streit zwischen den beiden, der damit endete, dass Bowie bewusstlos in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Als das Gerücht er habe einen Herzinfarkt erlitten die Runde machte, gab ein Krankenhaussprecher Entwarnung: „Der britische Ehemann hatte es offenbar ein wenig wild angehen lassen und zu viel getrunken.“
Der Song endet nach knapp vier Minuten entsprechend wild, turbulent und löst sich in völliger Desorientierung auf.
Nach dem ungemein aufwühlenden Abschluss der ersten LP-Seite, folgen auf der zweiten Seite, ähnlich wie bei „Low“, weitestgehend Instrumentalstücke, die insgesamt detaillierter ausgestaltet sind, als beim Vorgängeralbum. Der Einsatz von Umgebungsgeräuschen, wie Hundegebell, kreisende Flugzeuge oder Wind, sorgt stellenweise dafür, dass sich die Musik fast in ihrer Umgebung aufzulösen scheint.
Die zweite Seite eröffnet mit dem recht unbeschwert klingenden „V2-Schneider“, dessen Titel als ein Gruß an den Mitbegründer der Band Kraftwerk, Florian Schneider, mit dem Bowie freundschaftlich verbunden war, zu verstehen ist. Doch auch wenn Bowie sich sicherlich von der deutschen Band inspirieren ließ, klingt „V2-Schneider“ doch ganz anders als der kühle Sound der Düsseldorfer Band. Der besondere Reiz des Stückes liegt in Bowies herrlich verrücktem Saxofonspiel, das er im Verlauf einer spontanen Improvisation – die Arbeitsweise, die er zu jener Zeit so sehr schätzte – unkonventionell auf den unbetonten Takt ausrichtete. Das Resultat ist bemerkenswert effektiv und verleiht dem Song seinen ganz besonderen Groove.
Der unbeschwert dahinfließende Song wird durch das gespenstische „Sense of Doubt“, das eine eisige, düstere, von dunklen Vorahnungen durchsetzte Atmosphäre verströmt, jedoch sogleich vollständig konterkariert. Doch es sind eben diese Gegensätze, die den Reiz des Albums ausmachen. Bei der Entstehung des Stückes haben Bowie und Brian Eno das sogenannte „Oblique Strategy card set“ genutzt, einen Kartensatz, den Eno zwei Jahre zuvor entwickelt hatte, um Künstler zum Querdenken zu ermutigen und somit kreative Blockaden zu durchbrechen. Bowie und Eno wählten jeweils zufällig eine Karte aus, auf der eine Frage oder eine kryptische Bemerkung zu lesen war, die fortan das weitere künstlerische Vorgehen leiten sollte. Beispiele für derartige Anregungen sind: „Nutze eine alte Idee“, „Was würde dein bester Freund tun?“, „Was sollte erhöht und was sollte reduziert werden?“, „Deute deinen Fehler als eine versteckte Absicht“, „Gib dich deinen schlimmsten Impulsen hin“ oder „Frage deinen Körper“. Die Anwendung dieser Karten sollten die beiden im Verlaufe ihrer weiteren Zusammenarbeit noch intensivieren.
„Sense of Doubt“ geht nahtlos in das Stück „Moss Garden“ über, womit erneut ein vollkommener atmosphärischer Bruch erfolgt. Es ist ein stiller, ätherisch und abstrakt wirkender Song, bei dem die zuvor aufgebaute Spannung abzufallen scheint und eine Ahnung von Glück spürbar wird. Unterlegt von Enos schwebendem, warmem Synthesizer-Sound zupft Bowie Koto, eine Art japanische Zither. Größer könnte der Kontrast zu einem Stück wie „Blackout“ kaum noch sein.
Es folgt das atmosphärische und orientalisch klingende „Neuköln“, das die Entwurzelung der türkischen Immigranten, die einen beträchtlichen Teil der Einwohnerschaft Berlin-Neuköllns (die Schreibweise des Titels beruht auf einem Rechtschreibfehler) ausgemacht haben, widerspiegelt. Das Stück beschwört eine bedrohliche Atmosphäre herauf und fängt das Gefühl, in einer isolierten Gemeinschaft zu leben, eindrucksvoll ein. Robert Fripp und Brian Eno steuern eine eisige Akkordfolge bei, zu der Bowie ein klagendes, einsames Saxofon spielt, das am Ende des Stückes wie im Nebel verloren verhallt.
Eigentlich wäre „Neuköln“ ein idealer Abschluss für die Platte gewesen, doch es folgt noch ein überraschender, letzter Song, bei dem Bowie wieder zum Mikrofon greift und dabei die ganze Bandbreite seines Stimmumfanges nutzt. „The Secret Life of Arabia“ fällt innerhalb des Albums völlig aus dem Rahmen, denn während es zunächst noch ein wenig an eine Band wie Can erinnern mag, wandelt es sich zu einem rhythmischen, mit orientalischen Klängen durchsetzten Song, der geradezu Discofeeling aufkommen lässt.
In der Rückschau wird deutlich, dass „The Secret Life of Arabia“ bereits in eine neue Richtung weist. Bowie stellte dazu später fest, dass es auf fast jedem seiner Alben einen Song gäbe, der als zuverlässiger Indikator für die musikalische Richtung der kommenden Veröffentlichung dienen könne. Im Falle von „Heroes“ ist dieses sicherlich „The Secret Life of Arabia“, das mit seinen orientalischen Klängen auf das Nachfolge-Album „Lodger“ hinweist.
Bowie scheint innerhalb der drei Jahre, die er in Berlin verbracht hat, die Atmosphäre seiner Umgebung förmlich aufgesogen und für seine Arbeit genutzt zu haben. Tony Visconti erinnert sich, dass mit Bowie ein Album zu produzieren „mehr ist, als mit ihm in ein Studio zu gehen. Er hat die regionale Kultur wirklich kennenlernen wollen. So hat er immer gearbeitet und Berlin war der ideale Ort, für das, was er damals wollte. Berlin war ein starker und beängstigender Ort, mit einem aufregenden Nachtleben und exotischen Plätzen, wie dem türkischen Viertel.“ Das Resultat dessen was Bowie in den Hansa-Studios produziert hat, ist die gebündelte, musikalische Abbildung seiner Umgebung, so wie er sie wahrgenommen hat: urban, überspannt, neurotisch, kraftvoll, rastlos, desolat und romantisch.