Unterwegs… in Berlin

„Sometimes I feel that I need to move on“
3.Teil

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Albumcover "Lodger"

Albumcover „Lodger“

„Ich hatte nicht die Absicht Berlin zu verlassen, ich trieb einfach davon.
Es war eine unersetzliche Erfahrung und bis zu diesem Zeitpunkt
wahrscheinlich die glücklichste Zeit meines Lebens.“
(David Bowie)

„Sometimes I feel that I need to move on, so I pack a bag and move on”, singt David Bowie mit übertrieben ernster Stimme in dem Song „Move on”, in dem er seine rastlose Reiselust und Wurzellosigkeit beleuchtet. 1976 traf er nahezu unbemerkt in Berlin ein und irgendwann im Verlaufe des Jahres 1978 war seine Zeit in der deutschen Hauptstadt vorüber und Bowie trieb es zu anderen Orten dieser Welt.

„How to get the train from Potsdamer Platz“, heißt es vier Jahrzehnte später in „Where are we now“, jenem wehmütigen Song, der vor drei Jahren völlig überraschend zu Bowies 66. Geburtstag erschien und in dem er auf seine Zeit in Berlin zurückblickt. Alleine die Tatsache, dass er fast 40 Jahre später der Stadt ein Lied widmet, zeigt wie bedeutend diese Station für ihn war.

„Sitting in the Dschungel on Nürnberger Straße“, erinnert sich Bowie in der zweiten Strophe des Liedes. Der „Dschungel“ war in den späten 1970er Jahren ein gefragter Szenetreffpunkt in Berlin und Bowie hat manchen Abend dort an der Theke sitzend verbracht. Bereits in den 20er und 30er Jahren, der Zeit für die sich Bowie so sehr interessiert hat, war das Gebäude ein Anziehungspunkt im Berliner Nachtleben, als es ein Varietétheater beherbergte, in dem neben Travestiekünstlern unter anderem auch Josephine Baker in ihrem berühmten Bananenrock auftrat. In den 70er Jahren bezog der „Dschungel“ die Räumlichkeiten, in denen die stylishe Szenedisco in den kommenden Jahren, neben Bowie und seinem Freund Iggy Pop, zahlreiche Prominente wie Mick Jagger, Prince, Sade, Frank Zappa, Boy George oder Barbara Streisand anzog, die alle mit einem gefüllten Glas in der Hand über den mit goldenen Mosaiksteinchen gepflasterten Boden schritten, während sich draußen eine bis zu 200 Meter lange Warteschlange bildete. Nicht jedem gelang es die strenge Kontrolle der Türsteher zu bestehen – man sprach seinerzeit von der „härtesten Tür in Berlin“ -, sodass angeblich selbst Boris Becker und Sylvester Stallone sich einen anderen Ort zum Feiern suchen mussten. Bowie hatte derartige Schwierigkeiten nicht und hat seine Abende hier weitestgehend als stiller, rauchender und trinkender Beobachter an der Bar verbracht. Der einstige Barkeeper erinnert sich, ihn als sehr freundlichen Gast erlebt zu haben, mit dem man mitunter auch ein paar private Worte wechseln konnte.
Bowie hat seine Zeit in Berlin äußerst intensiv verbracht, sich in das aufregende Nachtleben gestürzt oder in Museen und Galerien von deutscher Kunst inspirieren lassen. Zudem war er musikalisch äußerst produktiv und arbeitete phasenweise, getrieben von Enthusiasmus, geradezu besessen. Brian Eno erinnert sich an die Zusammenarbeit mit Bowie: „Er kommt in einen seltsamen Zustand, wenn er arbeitet. Er isst dann nichts mehr. Wir sind morgens um sechs nach Hause geschwankt, wo er sich ein rohes Ei aufschlug und in seinen Mund fließen ließ. Das war seine Mahlzeit für den Tag.“




Ich befinde mich derzeit in den einstigen Hansa-Studios, in denen Bowie sein Album „Heroes“ produziert hat und wo heute im Rahmen einer Trauerfeier den Fans von Bowie die Türen offenstehen, um ihrem Idol die letzte Ehre zu erweisen. Ich bleibe bis in die Abendstunden hier, komme mit Gästen ins Gespräch, lausche Songs von David Bowie und treffe Astrid Knauer, die Frau, die mittels einer Online-Petition fordert, eine Straße in Berlin nach dem verstorbenen Star zu benennen. Mehr als 12.000 Unterstützer hat sie mittlerweile für ihr Anliegen gewonnen, doch laut Berliner Straßengesetz ist die Benennung einer Straße erst möglich, wenn der Namensgeber seit mindestens fünf Jahren tot ist. Dennoch erfolgten von Seiten der Politik bereits Signale, dass das Anliegen durchaus ernst genommen wird. Denkbar sei aber auch eine Stele oder eine Gedenktafel, um in der Stadt, der Bowie einiges zu verdanken hat, genauso wie die Stadt ihm, angemessen an David Bowie zu erinnern.

P1080004 Die drei aufeinanderfolgende Alben „Low“, „Heroes“ und „Lodger“ werden gemeinhin als Bowies „Berlin-Trilogie“ bezeichnet, obwohl zur Wahrheit gehört, dass lediglich „Heroes“ vollständig in Berlin produziert worden ist. Das letzte Album der Reihe („Lodger“) wurde überwiegend in der Schweiz eingespielt und lediglich einige Inspirationen aus Bowies Zeit in Berlin mag man darauf noch erkennen können. Die eigentliche Verbindung der drei Produktionen besteht eher darin, dass Bowie bei ihnen mit Brian Eno, der den Sound der Aufnahmen maßgeblich beeinflusst hat, zusammengearbeitet hat. Bereits der Titel („Lodger“ = Mieter) deutet auf Bowies damaliges Empfinden hin. Er sah sich zu jener Zeit als rastlosen Wanderer, der von Fernweh und Neugierde getrieben, an verschiedenen Orten ankam, sie vorübergehend als anregend empfand und eben auch in Berlin „nur“ ein Mieter, ein Bewohner auf Zeit, war. „Lodger“ ist anzumerken, dass sich Bowie auch musikalisch bereits auf der Suche nach etwas Neuem befand. „Es ist generell so, dass sobald ich eine Komposition veröffentlicht habe, sie bereits nicht mehr aktuell ist. Ich bewege mich dann bereits schon wieder in ganz andere Richtungen.“ Zudem ist beim Hören des Albums spürbar, dass die Zeit der Zusammenarbeit mit Eno ihr, zumindest vorübergehendes, Ende gefunden hatte. Die beiden schienen ausgelaugt zu sein, wie Beobachter aus ihrem Umfeld es formuliert haben, und der Druck, erneut etwas Überraschendes und zugleich Geniales produzieren zu müssen, lastete zudem auf den beiden.
Nach der Veröffentlichung von „Heroes“ war Bowie nahezu rastlos unterwegs. Er pendelte zwischen Berlin, der Schweiz und New York, ging auf Welttournee und verbrachte gemeinsam mit seinem Sohn einen Urlaub in Kenia.

Insbesondere auf der ersten Seite von „Lodger“ steht das Thema des rastlosen Reisenden im Zentrum.
Bei den Anfangstakten des ersten Songs, dem relativ ruhigen klaviergetragenen Song „Fantastic Voyage“, ist sogleich eine markante Veränderung im Vergleich zu den Vorgängeralben erkennbar. Der rohe Schlagzeugsound ist verschwunden und auch Bowies Stimme klingt weitaus wärmer als auf den vergangenen beiden Alben.

Es folgt „African Night Flight“, bei dem Bowie erstmals, inspiriert von seiner Kenia-Reise, afrikanische Klänge verwendet. Während seines Urlaubes in dem ostafrikanischen Staat kam er nicht nur mit der Masaikultur in Berührung, sondern auch mit einer Gruppe deutscher Piloten, die ihn sehr faszinierte. Diese hatte es an die Küste des indischen Ozeans verschlagen, wo sie „ein seltsames Leben führten. Sie flogen mit ihren kleinen Cessnas über das Buschland und trieben allerlei verrückter Sachen. Es waren seltsame Charaktere, ständig besoffen und sie redeten die ganze Zeit ausschließlich davon, wann sie wieder los müssten“, erinnert sich Bowie.
Entstanden ist ein ungewöhnliches und irritierendes Stück ohne erkennbare Akkordstruktur, das ständig neue musikalische Wege zu suchen scheint, mit bizarren Soundeffekten versehen ist und scheinbar ausschließlich von Bowies Stimme zusammengehalten wird, die jedoch, mit ihren stetig wechselnden Melodien und Betonungsmustern, kaum weniger chaotisch wirkt. Brian Eno steuerte zu dem Song ein „prepared piano“ bei, wie es in den Credits heißt. Dazu hatte er Scheren und weitere Metallgegenstände auf seinen Klaviersaiten platziert und damit einen befremdlichen Sound geschaffen.




1978 unterbrach Bowie zeitweilig seine Reisen, kehrte noch einmal für längere Zeit nach Berlin zurück, um sich dort einen Traum zu erfüllen und eine Rolle in dem Film „Schöner Gigolo, armer Giogolo“ zu übernehmen. Nicht nur spielt der Film im Berlin der 20er Jahre, die Bowie so fasziniert haben, vor allem stand neben Bowie Marlene Dietrich, für die der Film ihre letzte Kinorolle bereithalten sollte, auf der Besetzungsliste. „Damit haben sie mich geködert“, gab Bowie später zu. Doch nicht nur der Film misslingt, auch zu dem erhofften Treffen mit Marlene Dietrich sollte es nicht kommen. Den Part für die gemeinsame Szene der beiden drehte Marlene Dietrich in Paris, während Bowie in Berlin vor der Kamera stand. Die beiden Aufnahmen wurden später am Schneidetisch zusammengefügt.
Erst vor wenigen Jahren tauchte ein Briefwechsel zwischen den beiden Stars auf, aus dem die große gegenseitige Sympathie sowie der enorme Respekt, den sie für den jeweils anderen empfanden, hervorgeht. Wiederholt beabsichtigten die beiden, sich zu treffen. In einem Brief vom März 1978 sagte die 77-jährige eine geplante Verabredung bedauernd ab und unterschrieb mit „Much Love, Marlene“. Bowie antwortete mit einer auf dem Briefpapier einer Concorde geschriebenen Nachricht, in der er ankündigte bald für Shows nach Paris zu kommen und versicherte „mit tiefster Liebe und Respekt“ bei den Konzerten für sie zu singen. In Paris bezog er eine Suite im Plaza Hotel, das unmittelbar gegenüber Marlenes Wohnung lag, doch erneut platzte ein gemeinsames Treffen und somit bewunderten sich die beiden weiterhin aus der Ferne, denn nicht nur Bowie hatte zeitlebens von Marlene Dietrich geschwärmt, auch von der Schauspielerin weiß man, dass sie Zeitungsartikel über David Bowie ausschnitt und aufbewahrte. Sie mochte ihn offenkundig sehr.

Diese Sympathie teilt sie augenscheinlich mit vielen Menschen auf der Welt, wie die eindrucksvollen Trauerbekundungen in New York, London, in Bowies Geburtsort Brixton und eben auch hier in Berlin zeigen.

Während des gesamten Tages drängen sich Fans im Meistersaal aneinander und die Warteschlangen vor den ausgelegten Kondolenzbüchern bleiben gleichbleibend lang. Es ist beeindruckend zu beobachten, welch unterschiedliche Menschen hier aufeinandertreffen. Jugendliche Punks stehen neben graumelierten Herren im Anzug und schwarzgekleidete Anhänger der Gothic-Kultur neben aufgedonnerten Transvestiten. Menschen, die sich unter anderen Umständen vermutlich kaum eines Blickes gewürdigt hätten, kommen ganz beiläufig ins Gespräch, weil sie eben doch mehr verbindet, als sie selbst vermutlich voneinander gedacht hätten.

Als Bowie eines Abends durch das türkische Viertel von Berlin streifte, fiel ihm der an einer Wand hinterlassene Schriftzug „Yassassin“ auf. Ihm gefiel der Klang des türkischen Wortes, das übersetzt „langes Leben“ bedeutet und entwickelte aus dieser Inspiration einen Song über einen türkischen Immigranten in Berlin. Musikalisch verbindet „Yassassin“, der dritte Song auf dem Album „Lodger“, orientalische Musik mit Reggae und ein wenig Funk, obwohl Bowie in einem Interview gestand, an Reggae Musik eigentlich nicht unbedingt Gefallen zu finden, vermutlich da er als Jugendlicher damit zu sehr bombardiert worden sei.

Bei dem folgenden „Red Sails“ hat sich Bowie musikalisch von der von ihm überaus geschätzten deutschen Band Neu! inspirieren lassen. Wie er in einem Interview erklärte bestand seine Grundidee darin, die neuen musikalischen Strömungen aus Deutschland mit einem verwegenen, englischen Söldnergefühl à la Errol Flynn zu verbinden und somit einen „hübschen Querverweis der Kulturen“ zu erwirken.
Als Gitarrist stieß Adrian Belew zu den bereits begonnenen Aufnahmen hinzu, mit dem Bowie die Herangehensweise, die er bereits beim Vorgängeralbum „Heroes“ mit Robert Fripp erfolgreich erprobt hatte, auf die Spitze trieb und Belew anwies, seine Solos einzuspielen ohne den Track – oder auch nur einen Akkord – zuvor zu kennen. Sobald Bowie das Gefühl hatte der Gitarrist werde mit dem jeweiligen Song vertraut wurde die Arbeit als abgeschlossen betrachtet.
Bowies Gesang klingt bei „Red Sails“ stellenweise zu hoch, wobei er auf dem kompletten Album mit seiner Stimme bewusst zu experimentieren scheint und manchmal gar den Eindruck erweckt, er bemühe sich absichtlich schlecht zu singen, Töne nur mit größter Anstrengung zu treffen oder seine Stimme möglichst unsicher klingen zu lassen, als ob er bewusst eines seiner Markenzeichen zerstören wolle.

„Lodger“ ist ein Album, das innerhalb Bowies Schaffen schwer einzuordnenden ist. Es wirkt zwar zugänglicher, leichter und poporientierter als seine beiden unmittelbaren Vorgänger „Low“ und „Heroes“, dennoch ist „Lodger“ in vielerlei Hinsicht äußerst experimentell und vereint viele, womöglich zu viele und mitunter etwas gewollt wirkende, innovative Ideen. Blickt man auf die vorausgegangenen Jahre zurück, in denen Bowie als gefeierter Weltstar, den Boden unter den Füßen zu verlieren schien, in Berlin wieder zu sich selbst und musikalisch überdies zu einem neuen Sound gefunden hat, könnte „Lodger“ als eine Art Übergangsalbum angesehen werden, das bereits eine neue, kommende Metamorphose Bowies erahnen lässt.
Diese sich ankündigende Verwandlung ging für jemanden wie David Bowie geradezu zwangsläufig mit einer örtlichen Veränderung Hand in Hand. Es gibt keinen „offiziellen“ Auszugstag aus seiner Berliner Wohnung. Bowie ging auf Welttournee, machte Urlaub, erwarb ein Loft in Manhattan, mietete eine Wohnung in London, pendelte von Ort zu Ort und kehrte irgendwann nicht mehr nach Berlin zurück, womit er die Stadt genauso verlassen hat wie er etwa zwei Jahre zuvor angekommen ist – unspektakulär und nahezu unbemerkt. „Ich hatte nicht die Absicht Berlin zu verlassen, ich trieb einfach davon. Es war eine unersetzliche Erfahrung und bis zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich die glücklichste Zeit meines Lebens“, äußerte er in der Rückschau. Er war nach seinem Aufenthalt in Berlin zweifellos in einer besseren Verfassung als noch wenige Jahre zuvor. Er wirkte geerdeter, freundlicher und auf Fotos aus jener Zeit ist deutlich erkennbar, dass Bowie weitaus gesünder und weniger maskenhaft wirkte als vor seiner Ankunft in der deutschen Hauptstadt. „Berlin half mir mich wiederzufinden. Meine Jahre in Berlin waren eine Katharsis. Eine erlösende, läuternde Erfahrung.“ Aber für Bowie war die Zeit gekommen weiterzuziehen. „Ich brauche eine Umgebung mit einer Art von Reibung, die widersprüchlich ist und die mir fremd ist. Sobald ich anfange mich sicher und wohl zu fühlen, kann ich nicht mehr schreiben. Ich glaube, wenn man meine Platten hört, kann man erkennen in welcher Stadt ich gerade war.“

Wenn dem so sein sollte, ist beim Hören von „Lodger” wohl am ehesten erkennbar, dass sich Bowie zu jener Zeit in keiner Stadt dauerhaft aufgehalten hat, sondern das Leben eines rastlosen Wanderers führte.
Die zweite Seite eröffnet mit dem Song “D.J.”, laut Bowie seine “zynischer Reaktion auf Disco.” Zu Beginn des Songs sind vier Töne einer Geige – wie Bowie bekennt, handelt es sich um die einzigen Töne, die er auf dem Instrument beherrscht – zu hören.
Es folgt „Look back in anger”, ein rhythmisch verworrener Song, dessen Text keinerlei Reimstruktur aufweist und bei dem sich Zeilen mitunter ins Nichts zu verlieren scheinen, bevor ein unerwarteter Wortschwall Bowies folgt. Dennis Davis, der bereits bei den vorangegangenen Produktionen am Schlagzeug gesessen hat, scheint jede sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen, um mit seinen Einwürfen dem Song möglichst viel Drive zu verleihen, während Carlos Alomar seine Aufgabe ein Gitarrensolo hinzuzufügen, unkonventionell löst. „Anstatt ein Solo zu spielen, bevorzugte ich ein Rhythmusgitarrensolo, welches sowohl von Nile Rodgers, als auch von John Lennon beeinflusst war.” Um eine Verbeugung vor dem Beatle scheint es sich auch bei dem Refrain zu handeln, denn der Gesang von Produzent Visconti erinnert stark an Lennons klagende Background Vocals auf dem Beatlesalbum „Sgt. Pepper”.
Zu „Look back in anger“ wurde ein von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Grey” inspiriertes Video gedreht, das ein wenig Bowies Berlinzeit aufleben lässt. Wie einst in seiner Schöneberger Wohnung, steht er an einer Staffelei und malt, bis er beginnt die Farbe von der Leinwand zu wischen, diese aber zeitgleich auf seinem Gesicht erscheint und somit die Kunst zur eigenen Haut wird.

In den folgenden Jahren kehrte Bowie mehrmals nach Berlin zurück. 1981 nutzte er gar erneut die Hansastudios, um „Baal“, eine EP mit fünf Songs, die er für eine Fernsehproduktion von Bertolt Brechts gleichnamigen Theaterstück einspielte, aufzunehmen. Im gleichen Jahr kam der in Berlin gedrehte Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, die Geschichte der in die Drogensucht abrutschenden Christiane F., in die deutschen Kinos, bei dem Bowie in der laut Regisseur Quentin Tarantino „besten Konzertverfilmung aller Zeiten“ einen Gastauftritt hatte.

Das im Film nachempfundene Konzert in der Berliner Deutschlandhalle besuchte im Frühjahr 1976 auch Romy Haag, eine transsexuelle Niederländerin, die in Schöneberg den Nachtclub „Chez Romy“ betrieb. Laut ihrer Biographie verlief die erste Begegnung mit David Bowie derart ähnlich, wie die Szene im Film, dass geradezu der Eindruck entsteht, Haag habe sie als Vorbild für ihre Schilderungen missbraucht. „Wir waren ziemlich bekifft und standen in der ersten Reihe“, erinnert sie sich und wie in der Filmszene, habe Bowie sich bei dem Song „Station to Station“ dem Bühnenrand genähert, wo sich ihre Blicke trafen und der Sänger sichtbar stutzte. In diesem Moment sei „eine Art telepathische Verbindung“ entstanden, die dazu führte, dass sich beide noch am gleichen Abend, im Anschluss an das Konzert, getroffen haben. Am folgenden Tag reiste Bowie nach Hamburg, um dort ein Konzert zu geben und rief Haag aus seinem dortigen Hotelzimmer an: „Ich brauche dich. Du inspirierst mich“, habe er ihr gesagt. Ob die beiden eine sexuelle Beziehung hatten, wie Bowies damalige Ehefrau in ihren beiden Büchern behauptet, bleibt unklar. Manch ein Bowiebiograph mutmaßt gar, dass Romy Haag der wahre Grund für Bowies kommenden Aufenthalt in Berlin war, doch derlei Fragen lassen sich letztlich nicht mit Gewissheit beantworten und erscheinen zudem auch unerheblich. Eine Inspiration war Romy Haag für Bowie in jedem Fall, was wohl in dem Song „Boys keep swinging“, der ersten Singleauskopplung aus „Lodger“, und dem dazugehörigen Video am deutlichsten wird.

Wie bei zahlreichen Stücken des Albums ist das Arrangement des Songs von Brian Enos “Oblique Strategies cards”, einem Kartensatz bei dem zufällig gewählte Anweisungen zu künstlerisch ungewöhnlichen Entscheidungen ermutigen sollen, angeregt worden. Im Fall von “Boys keep swinging” lautete die Anregung „nutze unqualifizierte Personen”, worauf Bowie sich entschloss, die beteiligten Musiker ihre Instrumente tauschen zu lassen. Um einen gewünschten punkigen Garagensound zu erreichen, übernahm Gitarrist Carlos Alomar die Drums und Schlagzeuger Dennis Davis den Bass. Es heißt Produzent Visconti habe sich bei der anschließenden Bearbeitung des Songs alle Mühe gegeben Alomars nicht eben filigranes Schlagzeugspiel soweit es möglich war zu retten.
“Boys keep swinging” wird gemeinhin als eine augenzwinkernde Antwort auf die Village People gedeutet, aber auch – unterstützt durch das dazugehörige Video – als ein Kommentar zu dem Konzept von Männlichkeit. Bowie tritt in dem Kurzfilm in Frauenkleidern auf, wobei er dank seines schauspielerischen Talents in der Lage ist, jeder Dame eine eigene Persönlichkeit zu verleihen. Am Ende des jeweiligen Auftritts verschmiert sich Bowie den Lippenstift, eine Geste die er von Romy Haag abgeschaut hat, die mit dieser theatralischen Gebärde allabendlich ihre Vorstellung enden ließ. Auch wenn das Video aus heutiger Perspektive nachlässig produziert ist, hat Bowie zwei Jahre vor dem Start von MTV die Chancen dieser Kunstform, sowohl künstlerisch als auch als Werbemöglichkeit, erkannt und sollte dieses bereits bei dem nachfolgenden Album erheblich perfektionieren. In den USA wurde das Video, aufgrund des Spiels mit den Geschlechterrollen, nicht gezeigt und als Bowie den Song in der TV-Show „Saturday Night Live” spielte, wurde die Zeile „other boys check you out” von der Regie ausgeblendet, wofür sich Bowie am Ende seines Auftritts (im Video ca. 0:15) mit einem von der Regie offenkundig übersehenen anzüglichen Spaß rächt.

Zum Ende des Originalvideos wirft Bowie einen flüchtigen Kuss in die Kamera, den man als seine Art „Goodbye Romy“ zu sagen – vielleicht auch „Goodbye Berlin“ – deuten könnte.

Da es mittlerweile bereits Abend geworden ist, ist auch für mich die Zeit gekommen zu gehen und den Meistersaal zu verlassen, denn nun sollte ich mich in mein Hotel zurückziehen, wo ich im Verlauf der Nacht die heute entstandenen Fotos sichten, auswählen und bearbeiten sowie einen Artikel über die Trauerfeier verfassen werde.

Einige Minuten später passiere ich das Reichstagsgebäude, vor dem Bowie am 6.Juni 1987, zehn Jahre nach dem Erscheinen von „Heroes“, ein legendäres Konzert gegeben hat. Nach seiner Ankunft in Berlin hatte er am Nachmittag den Hansastudios einen Besuch abgestattet und sich zur Hauptstraße 155, seiner einstigen Adresse, fahren lassen, um dort einige Erinnerungsfotos zu machen. Am Abend lauschten etwa 70.000 Menschen, die sich auf der Wiese vor dem Regierungsgebäude versammelt hatten, seinem Konzert, aber auch auf der östlichen Seite der Mauer kamen tausende Jugendliche zusammen, um den Auftritt zumindest akustisch zu verfolgen und an jene Zuhörer richtete Bowie während des Konzerts eine auf Deutsch vorgetragene Botschaft: „Wir schicken unsere besten Wünsche an all unsere Freunde, die auf der anderen Seite der Mauer sind.“ Als er „Heroes“ anstimmte drohte die Lage auf jener Seite der Grenzanlage zu eskalieren. Als die Fans zur Mauer vordrängten und von den zügig verstärkten Grenztruppen daran gehindert wurden, flogen Steine und der Slogan „Die Mauer muss weg“, ertönte aus den Kehlen der frustrierten Fans. Jahre später bekannte Bowie in einem Interview: „Das war eines der bewegendsten Konzerte, das ich je gegeben habe. Ich war den Tränen nahe. (…) Ich konnte die Leute auf der anderen Seite hören. Sie sangen mit und jubelten. Es brach mir das Herz. Das werde ich nie vergessen. Es war einer der emotionalsten Auftritte, die ich je erlebt habe. (…) Selbst jetzt rührt mich das noch zu Tränen. Als wir „Heroes“ spielten, fühlte es sich hymnisch an, fast wie ein Gebet. So habe ich das seither nie wieder empfunden. Egal, wie gut wir es danach spielten, war es fast beiläufig im Vergleich zu jenem Abend, denn es bedeutete in dem Moment so viel mehr. Es war die Stadt, in der es geschrieben wurde, und die genaue Situation, über die es geschrieben wurde. Das war einfach überwältigend.“

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Als ich am nächsten Morgen nach einer kurzen Nacht aufwache und zur „Berliner Morgenpost“, die vor meiner Hotelzimmertür für mich bereitliegt, greife, fällt mein Blick sogleich auf eine ganzseitige Anzeige, von der mich David Bowie, umgeben von Zitaten, anblickt. Aus dem kurzen, beigefügten Text geht der Stolz den Berlin empfindet, dem Künstler für einige Zeit als Heimat gedient zu haben, deutlich hervor. „Wenn uns jemand ganz sicher nicht verloren geht in den Jahren, die noch vor uns liegen, dann ist es der großartige David Bowie.“
Auch im neuen Jahrtausend stattete Bowie im Rahmen seiner Tourneen Berlin noch zwei Besuche ab und erneut kam dabei dem Song „Heroes“ eine ganz eigene Bedeutung zu. „2002 waren wir wieder in Berlin. Das Fantastische war, dass die Hälfte des Publikums – das Konzert war in der Max-Schmeling-Halle, die 10.000 bis 15.000 Leute fasst – damals in Ostberlin dabeigewesen war. Ich konnte den Leuten ins Gesicht sehen, zu denen ich vor all den Jahren gesungen hatte. Und jetzt sangen wir ´Heroes´ alle zusammen. Das war wieder sehr kraftvoll. Solche Erlebnisse führen dir vor Augen, was ein Song und eine Darbietung bewirken können.“ Zudem bescherte Bowie dem Publikum an diesem Abend, neben zahlreichen Hits seiner Karriere, als Überraschung das komplette „Low“-Album, mit dem seine etwa zweijährige Stippvisite in Berlin 1976 begann.

Lediglich ein Jahr später stand er erneut auf der Bühne der Max-Schmeling-Halle und offenbarte seine Verbundenheit mit der Stadt indem er den Fans ein außergewöhnlich langes Konzert von fast drei Stunden bot und sich spitzbübisch lächelnd mit den Worten verabschiedete: „Beim nächsten Mal spielen wir ein wenig länger.“ Doch ein nächstes Mal sollte es nicht geben, denn gegen Ende der Tournee erlitt Bowie im unmittelbaren Anschluss an seinen Auftritt beim Hurricane-Festival im niedersächsischen Scheeßel einen Herzinfarkt und beschloss nach seiner Genesung nie wieder auf Tournee zu gehen.
Wie bereits angedeutet beendete „Lodger” nicht nur Bowies Zeit in Berlin, es war auch der – zumindest vorrübergehende – Schlusspunkt der Zusammenarbeit mit Brian Eno. Gitarrist Belew erinnert sich, dass es zwischen den beiden zwar keinen Streit gegeben habe, aber dieser Funke, der noch bei `Heroes` da war, war verschwunden.” Bowie fasste seine Kooperation mit Eno Jahre später zusammen: „Aus irgendeinem Grund war es uns gelungen einen kraftvollen, beängstigenden, sehnsüchtigen, manchmal euphorischen Sound zu kreieren. Was wir geschaffen haben zählt sicherlich zu den besten Sachen, die wir beide jemals gemacht haben. Nichts klang damals wie unsere Alben. Wenn ich danach nie wieder ein Album aufgenommen hätte, wäre das in Ordnung gewesen, denn mein ganzes Wesen steckt in diesen drei Alben.”
Einen letzten Gruß an diese Phase seines Lebens hält Bowie sogar auf dem nur wenige Tage vor seinem Tod erschienenen letzten Album bereit, denn beim Intro zu „I can´t give everything away“, dem letzten Song auf „Blackstar“ und damit dem letzten Song in Bowies Karriere, ist eine Mundharmonika zu hören, die seinen Fans aus dem Song „A new career in a new town“ bekannt sein dürfte. Kurz vor seinem Tod erinnert er sich und uns an jenen hoffnungsvollen Song, mit dem er 1976 kurz nach seiner Ankunft in Berlin seine Absicht zu verkünden schien, in der neuen Umgebung persönlich wie künstlerisch neue Weg zu beschreiten. Diese Reminiszenz, was und wieviel auch immer hineinzuinterpretieren ist, wird keine zufällige Wahl sein, aber letztlich bleibt es wie der Songtitel aussagt: „Ich kann nicht alles preisgeben“ – als wolle uns Bowie zurufen: „Ich habe euch Hinweise gegeben, aber ich werde euch nicht die gesamte Geschichte verraten.“
Bowie hat Popmusik stets in einen größeren Zusammenhang gestellt und sie zu einer Kunstform, bei der Musik, Outfit, Design und Selbstinszenierung Hand in Hand gingen, erhoben, weshalb ihn der „New Musical Express“ vor einigen Jahren zum „einflussreichsten Popmusiker aller Zeiten“ wählte. Dies gilt sicherlich in besonderem Maße für seine Berliner Phase, während der er nicht nur einen neuen Sound kreierte, sondern es ihm mit einer bemerkenswerten Intuition gelang, seine Eindrücke von Berlin mit der Kulturgeschichte der Stadt sowie aktuellen musikalischen Strömungen zu verbinden.
Auch Jahrzehnte später schwärmte Bowie: „Die Zeit in Berlin bedeutet mir ungeheuer viel. Ich hab mich nie wieder so frei gefühlt.“




3 Gedanken zu „Unterwegs… in Berlin

  1. Ich bin noch viel zu aufgewühlt um einen Kommentar abzugeben.
    Der Bericht ist sehr persönlich und intensiv, aber aufregend zugleich.
    Wunderbar geschrieben. Ich wusste bisher wenig über David Bowie,
    nun weiß ich fast alles ! Toll !

  2. Dieser Bericht ist einfach ganz große Klasse, jedem Leser der mit Bowie etwas anfangen kann wird das Herz aufgehen.
    Bowie , Berlin und diese Zeit ist wie eine Reise zu Dir selbst.

    • Herzlichen Dank.
      Es hat mir viel Freude gemacht, mich mit der Zeit auseinanderzusetzen.
      War so ein bisschen ein persönliches „Abschied nehmen“.
      Schön, dass es anderen beim Lesen Freude bereitet.

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