Unterwegs… in New York City

Stormé DeLarverie – Feier des Nonkonformismus

Stormé DeLarverie
(c) Stefanie Moritz

„Als Kind einer schwarzen Mutter,

aufgewachsen im rassistischen Süden,

war ich es gewohnt wegzulaufen.

Als ich ungefähr fünfzehn Jahre alt war,

habe ich beschlossen, nicht mehr wegzulaufen…

und ich bin nie wieder vor

irgendetwas oder irgendjemandem weggelaufen.“

(Stormé DeLarverie)

 

Im legendären New Yorker Chelsea Hotel bin ich einer faszinierenden alten Dame mit dem wohlklingenden Namen Stormé DeLarverie begegnet (s. 1. Teil). Wie ich nach langwieriger Recherche herausgefunden habe, ist sie vornehmlich als Bürgerrechtsikone bekannt geworden, die das Leben von Millionen Menschen nachhaltig verändert hat und infolgedessen in entsprechenden Kreisen respektvoll „King Stormé“ genannt wird. Ich habe mich heute auf den Weg zu jenem Ort gemacht, an dem sie vor fast 50 Jahren durch ihr couragiertes Verhalten einen Umschwung hinsichtlich des Selbstbewusstseins der LGBTQ-Gemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer) bewirkt hat.

„Du hast die Wahl. Du kannst dir Sorgen machen, bis du davon tot umfällst, oder du kannst es vorziehen, das bisschen Ungewissheit zu genießen“, lautete eine Lebensmaxime des US-amerikanischen Schriftstellers Norman Mailer. Eine Devise, die sich Bewohner von Greenwich Village seit jeher zu eigen gemacht zu haben scheinen, strahlt doch kaum ein anderes Gebiet New Yorks ähnlich entspannte Gelassenheit aus wie dieses. Ein New Yorker würde nicht von Greenwich Village sprechen, denn hier heißt es schlicht „the Village“ (dt. „das Dorf“) und bis etwa 1820 befand sich an diesem Ort tatsächlich lediglich ein kleines Dorf, bevor ein erster nennenswerter Zustrom einsetzte, im Zuge dessen viele Menschen aus dem südlichen Manhattan vor einer sich ausbreitenden Gelbfieberepidemie hierher flohen. Einen gewissen dörflichen Charme hat sich das Viertel indes bis heute bewahren können.

Greenwich Village (c) M.Graß

An einem sonnigen Frühlingsmorgen spaziere ich durch kleine Gässchen, vorbei an beschaulichen Innenhöfen und weinberankten Reihenhäusern, auf deren Eingangstreppen der Zeitungsjunge die Tageszeitungen abgelegt hat. Ich beobachte eine Frau, die mit einem Gartenschlauch sorgfältig ihre Chrysanthemen wässert. Laubbäume, unter denen wohlgeordnet einige Autos parken, säumen die Straßen. Nur die Wenigsten ahnen, dass New York derart idyllisch sein kann.

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Bob Dylan im “The Bitter End Club” in Greenwich Village 1961

Die Bewohner des Villages zeichneten sich seit jeher durch zwei scheinbar gegensätzliche Eigenarten aus. Zum einem herrscht hier traditionell eine große Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen, weshalb Freidenker und Künstler bis in die späten sechziger Jahre das Viertel prägten und Musiker wie Bob Dylan sowie Jimi Hendrix von hier aus ihre jeweiligen Weltkarrieren starten konnten. Später zog es viele Homosexuelle, in der Hoffnung im Village ein unbehelligtes Leben führen zu können, hierher. Die Band und Ikone der Schwulenbewegung „Village People“ fand sich an diesem Ort zusammen und trägt ihren Gründungsort stolz im Namen.

Auf der anderen Seite werden im Village Traditionen gepflegt und nicht jedem modernen Trend wird blind gefolgt. Greenwich Village ist bekannt für seine Denkmalpflege und ein Blick auf eine New Yorker Straßenkarte zeigt, dass sich die Straßen hier nicht in das übliche Raster einfügen, denn erst an der Nordgrenze des Villages setzt sich das typische New Yorker Schachbrettmuster mit seinen rechtwinkligen Straßenführungen durch. Die Bewohner des Villages haben sich stets erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt, dass sich hieran etwas ändert.

(c) M.Graß

Ich spaziere ziellos durch die vielen kleinen Straßen, erblicke immens alte Häuser, von denen manche bereits vor mehr als 200 Jahren errichtet wurden und noch Holzfassaden aufweisen sowie klapprige an Straßenlaternen angekettete Fahrräder. Ein hellgelber, altmodischer Eiswagen rollt – putzig klingelnd – durch die Gassen und durchbricht die vorherrschende Ruhe.

(c) M.Graß

Belebter geht es auf der Bleeker Street zu, der Hauptschlagader des Villages, die wie so viele Orte in New York von Simon & Garfunkel ein musikalisches Denkmal gesetzt bekommen hat und mit charmanten Buchläden, Secondhand-Shops oder Plattenläden (im Village zieht man selbstverständlich das bewährte Vinyl der CD vor) entlang der Straße zum Stöbern einlädt.

Sex-Shop in der Christopher Street
(c) M.Graß

Ich biege in die Christopher Street, die Straße die dem weltweit verbreiteten „Christopher-Street-Day“ seinen Namen verliehen hat. Ein Sexshop reiht sich hier an den nächsten, wobei sich die Angebote offensichtlich in erster Linie an homosexuelle Käufer richten. Aus der Ferne erkenne ich bereits das „Stonewall Inn“, jene Szenekneipe, in der die weltweite Forderung nach Gleichberechtigung der Schwulen und Lesben ihren Ausgang nahm.

Das „Stonewall Inn“
(c) M.Graß

Auf den Parzellen in der Christopher Street Nr. 51–53 wurden 1843 und 1846 zwei zweistöckige Ziegelhäuser errichtet, die nach Umbaumaßnahmen in den 1930ern zu einem Restaurant vereint wurden. Für Renovierungsarbeiten wurde dieses 1966 geschlossen und ein Jahr später als privater Club „Stonewall Inn“, der sich an die homosexuelle Gemeinschaft von Greenwich Village als Zielpublikum richtete, neu eröffnet.

Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die juristische und gesellschaftliche Diskriminierung Homosexueller noch weitaus ausgeprägter, als dieses heute der Fall ist. Homosexualität wurde als abnorme Abart der menschlichen Sexualität betrachtet und durfte nicht öffentlich zur Schau gestellt werden. Ebenso war das sogenannte Cross-Dressing illegal und es drohte die Verhaftung, wurde nicht eine bestimmte Anzahl „geschlechtsgerechter“ Kleidungsstücke getragen.

Das Stonewall Inn bot zu jener Zeit Schwulen und Lesben die Möglichkeit, sich allabendlich zu treffen, um zumindest dort unbehelligt feiern, trinken und tanzen zu können. Diese gelöste Stimmung wurde jedoch wiederholt durch Polizeirazzien gestört, in deren Verlauf die Identität der Besucher, die oftmals heftige Beleidigungen seitens der Ordnungshüter über sich ergehen lassen mussten, festgestellt wurde. Es kam zu Anklagen wegen anstößigen Verhaltens und zuweilen wurden die Namen von Gästen öffentlich gemacht, mit verheerenden sozialen Folgen für die Betroffenen.

In der Nacht des 28. Juni 1969 kam es gegen 1:20 Uhr erneut zu solch einer Razzia. Das Stronewall Inn war zu dem Zeitpunkt mit etwa 200 Besuchern geradezu überfüllt, da am selbem Tag Judy Garland beerdigt wurde und dieses Ereignis viele Homosexuelle, Transvestiten und Drag Queens in die Stadt lockte. Wieder und wieder dröhnte Garlands berühmtester Song „Over the Rainbow“ aus den Boxen. „Somewhere over the rainbow, skies are blue and the dreams that you dare to dream really do come true“, verheißt der Song. Beim Begräbnis am Nachmittag trugen bereits einige Trauernde Regenbogenfahnen als Anspielung auf dieses Lied. Die Regenbogenfahne wurde später zu einem internationalen schwul-lesbischen Symbol.

In dieser Nacht rückte das versprochene Land „an dem alles besser und gerechter ist“ jedoch in weite Ferne, als acht Beamte des Ersten Bezirks, von denen nur einer eine Uniform trug, bewaffnet mit Schlagstöcken das Lokal stürmten, um zahlreiche weiblich erscheinende Männer zu ergreifen, mit Schlägen zu traktierten und zu verhaften. Der Folk-Sänger Dave Van Ronk, der zufällig die Bar passierte, wurde ebenfalls von den Polizisten ergriffen und mit Schlagstöcken misshandelt.

Auch Stormé DeLarverie, die ich vor einigen Tagen zufällig im Chelsea Hotel getroffen habe (s. Teil 1), war an jenem Abend anwesend und erinnert sich: „Die Bullen haben gegen zwei Uhr morgens Gäste aus der Eingangstür von The Stonewall gezerrt. Ich habe gesehen, wie dieser eine Junge von drei Polizisten herausgeholt wurde, nur einer in Uniform. Drei zu eins! Ich habe es meinen Kumpels gesagt. `Ich kenne ihn! Das ist Williamson, der Freund meiner Freundin Sonia Jane.` Williamson riss sich kurz los, aber sie packten seine Jacke und zogen ihn runter auf den Boden. Einer von ihnen trat ihn. Ein weiterer Polizist schlug ihn grundlos von hinten. Ich rief den anderen zu: `Warum tut ihr nichts?!` Gleich darauf brüllte mich ein Polizist an: ‚Komm schon, Tunte`. Ich hielt ihm entgegen: ‚Wag es nicht, mich anzufassen.‘ Der Polizist schubste mich und ich schlug ihn instinktiv ins Gesicht. Er blutete! Er ist auf den Boden gefallen – nicht ich!”

Ein Handgemenge brach aus, in dessen Verlauf die von der Gegenwehr überraschten Polizisten in die Defensive gerieten, sich in ein Hinterzimmer der Bar zurückzogen und Verstärkung anforderten. Draußen entwickelten sich derweil wilde Schlägereien, die sich auf die umliegenden Straßen ausweiteten und bei denen viele zum Teil unbeteiligte Passanten von den herbeigerufenen Polizisten schwer misshandelt wurden. Der Widerstand konnte dennoch nicht gebrochen werden, woraufhin die Polizei ihre Truppen auf etwa 400 Mann verstärkte, jedoch feststellen musste, dass die Ereignisse zu einer breiten Solidarisierung der Bevölkerung von Greenwich Village mit den Gästen des Stonewall Inn geführt hatte und deren Zahl mittlerweile auf knapp 2000 angewachsen war.

Die Polizei entsandte ihrerseits weitere Verstärkung in Form der Tactical Patrol Force, einer Spezialeinheit, die ursprünglich ins Leben gerufen wurde, um sich Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg entgegenzustellen. Die Tactical Patrol Force versuchte sogleich die Menge zu zerstreuen. Doch diese leistete leidenschaftlichen Widerstand gegen die Polizeiwillkür und skandierte lautstark: „Gay Power!“. Letztendlich beruhigte sich die Lage vorübergehend, doch die Protestierenden kehrten in den kommenden Nächten zurück. Aufgestauter Zorn und Empörung gegen die Art, wie Homosexuelle seit Jahrzehnten von der Polizei behandelt worden waren, entluden sich.

Die Straßenschlachten zogen sich mehrere Tage hin, bis der damalige Bürgermeister John Lindsay die Polizei abrücken ließ. Die Rufe „Gay Pride“ oder „Gay Power“ hallten noch nächtelang durch die idyllischen Gassen des Villages und gänzlich verstummen sollten sie nie wieder.

VIDEO zur Stonewall-Rebellion:

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Transparent am Stonewall Inn am 23.Juni 2009 zum 40. Jahrestag des Aufstandes

Die Ereignisse werden bis heute als Wendepunkt im Kampf der Homosexuellen um Gleichberechtigung und Anerkennung angesehen, denn zum ersten Mal hatte sich ihre Gemeinschaft gegen die herrschende Polizeiwillkür gewehrt – und das mit großem Erfolg. Dieser Akt zeigte Wirkung, die bis in die heutige Zeit anhält. Man war es leid, sich heimlich im Verborgenen zu treffen, sondern wollte sich fortan stolz und offen zeigen und für seine Rechte eintreten. Die Kräfte, die lange Zeit unter der Oberfläche gebrodelt hatten, blieben nun nicht länger verborgen. Ende Juli formierte sich die Gay Liberation Front (GLF) in New York, die bereits Ende des Jahres mit vielen lokalen Gruppen in zahlreichen Städten und an Universitäten des Landes vertreten waren und schon bald darauf gründeten sich weltweit vergleichbare Organisationen. Zum Jahrestag des Aufstandes fand der erste Gay Pride-Umzug in New York statt, der etwa 10.000 Menschen von der Christopher Street zum Central Park führte und der seitdem zu einem regelmäßigen Ereignis im Veranstaltungskalender der Stadt geworden ist. Hieraus erwuchs rasch eine internationale Tradition, sodass auch in deutschen Städten im Sommer Paraden und Demonstrationen für die Rechte von Schwulen, Lesben und anderen sexuellen Minderheiten abgehalten werden, die hier – in Erinnerung an die Nächte im Greenwich Village – „Christopher Street Day“ genannt werden.

VIDEO: Impressionen des ersten Gay Pride-Umzugs

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„Gay Liberation“ von George Segal

In einer kleinen Parkanlage unmittelbar vor dem Stonewall Inn erinnert das Denkmal „Gay Liberation“ von George Segal an die damaligen Unruhen. Zu sehen sind zwei stehende schwule Männer sowie ein auf einer Bank sitzendes lesbisches Pärchen. Gemessen an den damals Beteiligten – darunter zahlreiche Transsexuelle, die das gewohnte Rollenbild der Geschlechter noch weitaus radikaler infrage stellten – handelt es sich um eine äußerst brave und traditionelle Darstellung.

„White Horse Tavern“
(c) M.Graß

Inzwischen ist es Abend im Village geworden und diesen möchte ich in der White Horse Tavern ausklingen lassen. Die traditionsreiche Bar existiert seit 1880 und so manches Whiskyfass ist hier im Laufe der Jahrzehnte geleert worden. Wurde das White Horse zunächst vorrangig von Hafenarbeitern frequentiert, veränderte sich dieses in den fünfziger Jahren, als zahlreiche Künstler Greenwich Village für sich entdeckten. Von nun an wurde die Taverne zum Treffpunkt für Schriftsteller und Musiker wie Bob Dylan, Jack Kerouac oder Hunter S. Thompson. Berühmtheit über die Grenzen New Yorks hinaus erlangte die Bar aber wohl erst, als sich Dylan Thomas hier zu Tode trank. „Ich hatte achtzehn Whiskys – ich denke, das ist Rekord“, sollen seine letzten Worte gewesen sein, bevor er zusammenbrach und noch in derselben Nacht verstarb.




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 Norman Mailer, 1962

Bis ins hohe Alter blieb das White Horse das Stammlokal von Norman Mailer, der sich hier zum Tagesausklang gerne einen Bourbon genehmigte und genau das habe ich jetzt auch vor. 1955 hat Mailer gemeinsam mit zwei weiteren Journalisten die Wochenzeitung „Village Voice“ gegründet, die bis heute investigative Artikel, Analysen aktueller politischer Entwicklungen, Kultur- und Kunstkritiken sowie Veranstaltungshinweise für New York City veröffentlicht. Während die schmachvolle Niederlage der Polizei am „Stonewall Inn“ zunächst versucht wurde totzuschweigen, war „The Village Voice“ die einzige Zeitung, die ausführlich über die Vorgänge berichtete und somit dafür sorgte, dass ganz New York von den Geschehnissen erfuhr.




Ich bestelle mir an der Theke einen Bourbon und nehme an einem der freien runden Holztische Platz, wo meine Gedanken bald wieder um Stormé DeLarverie kreisen. Jahrzehntelang führte sie die alljährliche „New York City Gay Pride Parade“ an und erwarb sich aufgrund ihres mutigen und renitenten Verhaltens, das den Aufstand letztlich ausgelöst hatte, den Spitznamen „King Stormé“. Bis ins hohe Alter wurde sie häufig als Rednerin eingeladen, um bei verschiedenen Anlässen an die Nächte im Juni 1969 zu erinnern und sie aus Sicht der Beteiligten zu schildern. Stormé war es sehr wichtig herauszustellen, um was es sich im Kern bei den Vorgängen gehandelt hat. „Es war eine Rebellion, es war ein Aufstand, es war ziviler Ungehorsam … es war kein verdammter Krawall“, stellte sie wiederholt klar und versuchte den Bogen weiter zu spannen, als dieses gewöhnlich in der Wahrnehmung der damaligen Ereignisse getan wird. „Es war egal, ob du Mann, Frau, homosexuell oder heterosexuell bist. Es ging darum, dass jeder seiner Identität entsprechend leben kann und dass niemand ihm dieses Recht nehmen darf.“ Jahrzehnte später von einer jungen Journalistin auf ihre damalige, führende Rolle angesprochen, erinnerte sie sich an wohlmeinende Warnungen. „Man wird dich von hinten erdolchen, man wird dich schlagen oder erschießen …“, um nach einer längeren Pause, in der sie ihre Gedanken schweifen ließ, verschmitzt hinzuzufügen: „Aber Schätzchen … Sie sind alle tot und ich bin immer noch hier.“

Stormés Geburtstag wurde jährlich mit einem großen Festdinner im Kreise ihrer damaligen Weggefährten feierlich begangen, wobei sich Stormé selbst wenig Gedanken um ihr Alter machte. „Alter ist nur eine Zahl… wenn es dich nicht stört, spielt´s auch keine Rolle“. Auch um ihre Rolle, die sie 1969 am Stonewall Inn spielte, machte sie zeitlebens ebenso wenig Aufhebens wie um ihr späteres soziales Engagement sowie ihre außerordentliche Hilfsbereitschaft und Solidarität gegenüber Außenseitern. Erst sehr spät in ihrem Leben bekannte sie, was aufgrund von Augenzeugenberichten ohnehin kaum noch ein Geheimnis war. Sie war die Person, die 1969 die Rebellion am „Stonewall Inn“ ausgelöst hatte. Auf die Frage, warum sie dies niemals betont und auf die verdiente Anerkennung bestanden habe, antwortete sie lapidar: „Weil es niemanden etwas angeht.“

An einem sonnigen Nachmittag im Sommer 2008 fertigte der New Yorker Künstler Antony Zito auf einem Balkon des Chelsea Hotels, in dem Stormé DeLarverie über 30 Jahre lang lebte, ein Porträt von ihr an und setzte Stormé mit diesem wunderschönen, ausdrucksvollen Acrylbild ein verdientes Denkmal.

Stormé DeLarverie gemalt von Antony Zito

Stormé besaß eine staatliche Waffengenehmigung, durchstreifte noch als über Achtzigjährige die Siebte und Achte Avenue, um auf den Bürgersteigen vor einschlägigen Bars zu patrouillieren – stets auf der Pirsch nach etwas, was sie „Hässlichkeit“ nannte, worunter sie jegliche Form von Intoleranz oder Missbrauch gegenüber ihren „babys“, wie sie die LGBTQ-Gemeinschaft liebevoll mütterlich nannte, verstand. Zudem organisierte sie unermüdlich Unterstützung für misshandelte Frauen und Kinder. Als sie gefragt wurde, warum sie sich trotz ihres hohen Alters noch immer dieser Aufgabe verschrieben habe, entgegnete sie: „Jemand muss sich darum kümmern. Es ist eigentlich ganz einfach. Wenn sich niemand um mich gekümmert hätte, als ich aufwuchs, mit meiner schwarzen Mutter, tief im von Rassismus geprägten Süden, wäre ich heute nicht hier.“

Geboren wurde die Kreolin, als Tochter einer afroamerikanischen Mutter und eines weißen Vaters, am Heiligabend des Jahres 1920 in New Orleans. Zu jener Zeit herrschte in den konservativen Südstaaten noch eine strikte Rassentrennung, weshalb sie seit jeher mit Anfeindungen leben musste und aufgrund ihrer leicht dunklen Hautfarbe als Kind auf der Straße mit Steinen beworfen wurde. In einem Interview erinnerte sich Stormé an ihre Kindheit: „Honey, wenn Du so aufgewachsen bist wie ich, musstest Du deine Umgebung immer genau im Blick haben. Die weißen Kids haben mich gejagt, die schwarzen Kids haben mich gejagt, alle haben mich gejagt… bis ich aufgehört habe wegzulaufen.“

Als Teenager trat Stormé einem Zirkus bei. „Ich bin auf den Springpferden geritten“, erinnerte sie sich. „Auf einem Damensattel…“, fügte sie schmunzelnd hinzu. „….glaub mir, zu lernen wie man in solch einem Sattel reitet, kann deinem Hintern ziemlichen Schaden zufügen.“ Nach einem üblen Sturz, der zu einigen Knochenbrüchen führte, beendete sie ihre Reitkarriere. Zu jener Zeit realisierte Stormé, dass sie lesbisch war. „Es war, als wäre plötzlich eine Glühbirne über meinem Kopf angegangen… und der ganze Nebel, der mich umgab, war verschwunden“, erinnerte sie sich.

In den vierziger Jahren startete sie eine Künstlerkarriere, als sie als Sängerin mit einer dreiköpfigen Band auftrat und dabei mit ihrer charismatischen Baritonstimme Aufmerksamkeit erregte. Aus jener Zeit ist ein kurzer Audio-Mitschnitt erhalten geblieben, auf dem Stormé mit ihrer Version des Songs „Stormy Weather“, ein trauriges Liebeslied aus den 1930er Jahren, zu hören ist.




In den fünfziger Jahren machte sich Stormé einen Namen, indem sie als Mann gekleidet auf der Bühne stand und mit der legendären „Jewel Box Revue“, einer Travestiegruppe, durch die USA, Kanada und Mexiko tourte. Das Ensemble bestand aus 24 Männern, die allesamt als schöne, verführerische Frauen gekleidet waren und Stormé, die als einzige biologische Frau der Gruppe als vornehmer Gentleman auftrat – eine Rolle, die sie zunehmend auch privat einnahm. Die Idee einer Travestieshow war damals einzigartig, weshalb die Gruppe reichlich – positive wie negative – Publicity erhielt und Stormé als eine Wegbereiterin dieser speziellen Showsparte gilt. Ihrer Zeit weit voraus, belästigt durch Polizeirazzien und in manchen US-Staaten die Grenzen der damaligen Legalität durchbrechend, gewann die Gruppe zunehmend mehr Fans, darunter auch Sammy Davis Junior, der die Shows wiederholt besuchte.

Nachdem sich die „Jewel Box“, der Stormé 14 Jahre angehörte, 1968 auflöste zog sie nach Manhattan, wo es nur ein Jahr später zu der „Stonewall-Rebellion“ kam.

Stormé DeLarverie sah Parallelen zwischen dem Kampf gegen Rassismus sowie gegen Homophobie: „Stonewall war die Kehrseite der schwarzen Revolte, als Rosa Parks [US-amerikanische Bürgerrechtlerin; Anm. d. Verf.] Stellung bezog. Endlich bezogen die Leute Stellung. Die Polizei bekam den Schock ihres Lebens, als wir aus der Bar kamen, unsere Perücken abzogen und ihnen offensiv entgegentraten. Ich wusste immer, dass dies einmal geschehen würde – früher oder später. Man hat diese Leute einmal zu oft zur Seite gestoßen.“

Vor einigen Jahren wurde Stormé entkräftet und dehydriert in ihrer Wohnung im siebten Stock des Chelsea Hotels aufgefunden und umgehend in das St. Vincent’s Hospital in der West 12th Street eingeliefert. Dort hatte sie sich nach einigen Tagen wieder soweit erholt, dass sie Freunden bei vollem Bewusstsein, schlagfertig wie gewohnt erschien und sicher davon ausging, bald wieder nach Hause zurückzukehren. „Natürlich werde ich wieder dort wohnen. Ich bin seit 31 Jahren dort. Das ist mein Zuhause.“ Doch der nächste Weg führte sie nicht zurück in das zur Heimat gewordene Chelsea Hotel, sondern in ein Pflegeheim in Brooklyn.

Da Stormé keine Familie hatte (es ist unklar, ob tatsächlich keinerlei Verwandtschaft existierte oder ob derartige Kontakte über die Jahrzehnte abgerissen waren) setzte ein Gericht die Jüdische Gesellschaft für Altenpflege („JASA“) als Vormund ein. Lisa Cannistraci, eine langjährige Freundin von Stormé und Besitzerin der Lesben-Bar „Henrietta Hudson“, wo Strormé noch als 85-jährige (!) als Türsteherin gearbeitet hatte, äußerte sich frustriert aufgrund der Gleichgültigkeit der Schwulengemeinschaft bezüglich Stormés Notlage. „Wir hätten uns zusammenschließen können… aber dies ist nicht geschehen. Die jungen Schwulen und Lesben von heute haben noch nie von ihr gehört…“

Freunde, die Stormé zu jener Zeit besuchten, waren entsetzt über die menschenunwürdigen Zustände in dem Pflegeheim. Sie durfte ihr spärlich möbliertes Zimmer nicht verlassen und lag tagelang ohne Pflege in einem verdreckten Bett. Gemeinsam mit Michele Zalopany, einer weiteren Freundin Stormés, bemühte sich Lisa Cannistraci erfolgreich um die Vormundschaft. Nach einem knappen Jahr gelang es den beiden couragierten Frauen, Stormé in einem qualitativ erheblich besseren Pflegeheim unterzubringen, wo sie die letzten vier Jahre ihres Lebens verbrachte.

Ich blicke mich in dem mit Holz verkleideten Kneipenraum des „White Horse“ um, in dem sich in den letzten Jahren scheinbar wenig verändert hat. Eine altmodische Pendeluhr sowie ein an Dylan Thomas erinnerndes Gemälde zieren die Wand. An der Theke hockt eine Handvoll markiger Männer um die fünfzig, die stoisch ihr Bier leeren, um sogleich – möglichst wortlos – ein neues zu ordern. Im Andenken an Dylan Thomas und Norman Mailer bleibe ich jedoch bei meinem Vorsatz, leere meinen Bourbon und trinke auf ihr Wohl.

Als Dylan Thomas 1953 gestorben ist, tourte Stormé mit der legendären „Jewel Box Revue“ durch die USA. Das Chelsea Hotel, in dessen Lobby der trinkfeste walisische Schriftsteller zusammenbrach, bezog sie etwa 20 Jahre später. Hotelgäste wollen beobachtet haben, dass Stormés Zimmer bereits wenige Tage nach ihrer Einlieferung in das Krankenhaus, als sie noch unbeirrt von ihrer baldigen Rückkehr ausging, geräumt wurde und Handlanger ihren Besitz, darunter das von Antony Zito gemalte Porträt, in etwa 30 Müllsäcken verpackt hinaustrugen.

Ich beschließe, mir noch einen zweiten Drink zu gönnen, den ich in Gedanken auf Strormé und ihr ereignisreiches Leben trinke. Am frühen Morgen des 24. Mai 2014 ist Stormé DeLarverie im Pflegeheim, in dem sie die vergangenen vier Jahre gelebt hatte, als sie im Schlaf einen Herzinfarkt erlitt, verstorben.

Obwohl Stormé in ihren späteren Jahren unter Demenz litt und nicht erkannte, dass sie in einem Pflegeheim lebte, blieben die Erinnerungen an ihre Kindheit in New Orleans, den Stonewall-Aufstand sowie ihren Kampf für die Rechte der LGBTQ-Gemeinschaft ungetrübt präsent.

Stormé forderte mit Worten, Taten sowie ihrer persönlichen Lebensgestaltung, dass alle Menschen in ihrer Einzigartigkeit zu respektieren sind und unter dem gleichen Schutz des Gesetzes stehen. Sie hat vor nunmehr fast 40 Jahren Stellung bezogen und damit andere ermutigt, es ihr gleichzutun und diese Forderungen aufrechtzuerhalten. Einer ihrer denkwürdigsten und schönsten Aussprüche, der einer Quintessenz ihres Lebens gleichkommt, lautet: „Nonkonformismus sollte man nicht fürchten, sondern feiern!“

Am Tag der Gay Pride Parade im Juni 2010 erhielt Stormé im Pflegeheim Besuch von einer Journalistin der New York Times. Angesprochen auf den Umzug, begann sie, lediglich mit einem Pyjama bekleidet, ihre Schuhe zu suchen, um wie gewohnt teilzunehmen. Der Reporterin gelang es, die bereits von Demenz gezeichnete Stormé von diesem Gedanken abzubringen. Doch im weiteren Verlauf des Gespräches kam Stormé wiederholt unvermittelt auf die Parade zu sprechen und fragte sich, ob ihre „babys“ bereits unterwegs seien. Irgendwann schüttelte sie resigniert den Kopf und murmelte: „Sie werden sich fragen, wo ich bleibe…“

Sie bat die Reporterin, denjenigen, die teilgenommen haben, etwas auszurichten: „Seid einfach ihr selbst, wie ihr es immer wart. Ihr müsst nichts vortäuschen. Seid wie ihr seid.“

Zu meiner großen Freude ziert das von Antony Zito gemalte Stormé-Porträt mittlerweile meine Wohnzimmerwand, sodass ich tagtäglich diese bemerkenswerte Frau vor Augen habe und daran erinnert werde, den Nonkonformismus zu feiern.




Ein Gedanke zu „Unterwegs… in New York City

  1. Mit Spannung halbe ich auf den zweiten Teil gewartet. Ich bin beigeistert wie intensiv hier recherchiert wurde. Schön, soviel von dieser bemerkenswerten Frau zu erfahren. Gäbe es viele so couragierte Menschen ,wäre die Welt ein bisschen gerechter und schöner.
    Danke für den tollen Bericht.

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