Petra Kelly – Teil 2: Rückkehr nach Europa
„Ich strebe eine neue Form der politischen Vertretung an,
wo nicht nur der Lebensschutz und der Frieden endlich Priorität erhalten werden,
wo aber auch der Grundsatz von der Gleichberechtigung
zwischen Männern und Frauen praktiziert wird.“
(Petra Kelly)
Nachdem Petra Kelly ihr Studium in Washington als „beste ausländische Studierende“ erfolgreich abgeschlossen hatte, entschloss sie sich, auch um ihrer geliebten Großmutter näher sein zu können, nach Europa zurückzukehren. Im Herbst 1970 zog sie nach Amsterdam, wo sie sich schon bald sehr wohlfühlte und an der Universität den Master of Arts in Politischen Wissenschaften und Europäischer Integration erwarb.
Dort erhielt sie eine Empfehlung von ihrem Professor, der wie bereits ihre MentorInnen zuvor von Petra schwärmte: „Ich habe selten eine Studentin mit mehr Vorstellungskraft, Initiative, Sensibilität, Zivilcourage und unerschöpflicher Kraft für harte Arbeit gekannt.“ Mit reichlich Vorschusslorbeeren, eindrucksvollen Referenzen und gemessen an ihrem Alter bemerkenswerten Erfahrungen begann Petra Kelly ihre berufliche Laufbahn 1971 bei der EG-Verwaltung in Brüssel. Im Gegensatz zu Amsterdam hasste sie die Stadt sogleich.
Ich habe heute Nachmittag nach etwa siebenstündiger Zugfahrt – eingeschlossen die bei der deutschen Bahn vertrauten unverhofften Zwischenfälle – die Hauptstadt Belgiens erreicht, in der etwa 1,2 Millionen Menschen leben. Dies ist mit deutschen Städten wie Köln oder München vergleichbar, wobei die hohe Einwohnerdichte von mehr als 7000 Menschen pro Quadratkilometer jede deutsche Großstadt in dieser Hinsicht bei Weitem überflügelt. Auf dem Weg zu meinem Hotel fällt mir die dichte Bebauung am Rande der teils enorm breiten Boulevards auf. Die modernen Glasfronten, hinter denen sich mutmaßlich vornehmlich Büros von Mitarbeitern der EU befinden, türmen sich, je näher ich dem sogenannten Europaviertel komme, höher.
Nicht zu Unrecht empfand Petra Kelly die Stadt Brüssel, in der nicht nur die EU ihren Sitz hatte, sondern neben zahlreichen Banken und Versicherungen auch die NATO-Verwaltung beheimatet war, als eine Stadt der Bürokratie. Die belgische Metropole wies wenig grüne Flächen auf und die Bürgersteige erschienen außerordentlich schmal, was darin begründet lag, dass es sich bei Brüssel um eine historisch gewachsene Stadt handelt, die insbesondere in der Altstadt durch enge Straßen und Gehwege geprägt ist. Aber zweifellos war und ist Brüssel eine auf den Autoverkehr ausgerichtete Stadt, was die zahlreichen, über das gesamte Stadtgebiet verteilten, mehrspurigen Verkehrsachsen sowie die kaum existenten Radwege dokumentieren.
Auch ich kann bei meiner Ankunft in der Stadt sogleich den dichten Autoverkehr, der sich insbesondere in Bahnhofsnähe mühsam durch die Straßen drängt, in Augenschein nehmen. Brüssel gilt als Autostadt, in der Radfahren zu einer der abenteuerlichen Mutproben zählt. Ein erheblicher Anteil am Kraftfahrzeugbestand in Belgien und vornehmlich in Brüssel machen Dienstwagen aus, die steuerlich stark begünstigt werden. Doch das soll sich ändern, wenn ab 2026 die Steuervorteile für neue Firmenwagen, die klimaschädliches Kohlendioxid ausstoßen, gestrichen werden.
Doch noch weitere Veränderungen sind angekündigt oder befinden sich bereits in der Umsetzung. Die Stadtverwaltung hat einen ausgeklügelten Plan entwickelt, um den Autoverkehr zurückzudrängen und gleichzeitig das Radwegenetz auszubauen. Zu Auseinandersetzungen führte 2021 die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit. Lediglich auf den größeren Verkehrsachsen ist eine Geschwindigkeit von 50 km/h gestattet. Im unmittelbaren Stadtzentrum ist der Autoverkehr in den vergangenen Monaten bereits um etwa 20 % zurückgegangen, die Zahl der Verkehrstoten hat sich halbiert und die Lärmbelästigung ist spürbar gesunken. Das Ziel der Verantwortlichen ist erkennbar: In den kommenden Jahren soll sich Brüssel zu einer lebenswerten, verkehrsberuhigten und sicheren Stadt entwickeln.
Als vornehmlich lebenswert empfand Petra Kelly ihren neuen Wohnort nicht, als sie ihr Einzimmerapartment in der Avenue Cortenbergh im Herzen des Europaviertels, so die inoffizielle Bezeichnung der Region, in der die meisten Institutionen der Europäischen Union beheimatet sind, bezog. Während meines ersten Spaziergangs in der Stadt erlebe auch ich die Straße als wenig einladend, viel befahren und architektonisch uninspiriert.
Doch immerhin erstreckte sich unmittelbar vor ihrer Haustür der 37 Hektar große Parc de Cinquantenaire, ein bis heute beliebter Ort zur Erholung für die Einheimischen, die die Grünflächen bei schönem Wetter zum Joggen, Picknicken und Fußballspielen nutzen. Das ehemalige Militärgelände befand sich einst außerhalb des Stadtzentrums und wurde von König Leopold II. im 19. Jahrhundert zu einem Park umgestaltet und mit imposanten Bauwerken versehen, um der eigenen Bevölkerung wie der übrigen Welt die Prosperität Belgiens zu demonstrieren, die es nicht zuletzt der Ausbeutung der erworbenen Kolonie Kongo zu verdanken hatte.
Unmittelbar nach dem Betreten des Parks fällt mein Blick auf ein Minarett, das Teil eines ursprünglich 1880 für die Weltausstellung errichteten orientalischen Pavillon ist, der nach wechselhafter Geschichte heute die erste und größte Moschee Brüssels beherbergt.
In unmittelbarer Nähe erblicke ich einen kleineren tempelartigen Bau, hinter dessen architektonisch deplatziert wirkenden Mauern ein 12 mal 8 Meter großes, vom belgischen Bildhauer Jef Lambeaux geschaffenes Marmorrelief verborgen ist. Dieses unter dem Titel „Die menschlichen Leidenschaften“ 1899 ausgestellte Werk rief mit seinen detailgetreuen, teils erotischen Darstellungen einen derartigen Skandal hervor, dass drei Tage nach der Eröffnung die Errichtung eines hohen Sichtzauns erfolgte, der bald durch die massive Mauer, auf die ich nun blicke, ersetzt wurde.
Nach meinem Spaziergang durch den Park erreiche ich einen eindrucksvollen Prunkbau, den ursprünglich als Eingangstor in die Grünanlage dienenden Triumphbogen, der mich mit seiner Quadriga unwillkürlich an das Brandenburger Tor in Berlin erinnert und von einem beeindruckenden Kolonnaden-Halbrund, das die Geschichte Brüssels illustriert, eingefasst ist.
Es erscheint mir fraglich, ob sich die stets verbissene Petra Kelly für den Besuch derartiger Kleinode Zeit genommen hat. Stattdessen wird sie sich vorrangig in den Gebäuden im Europaviertel aufgehalten haben, um dort hinter den hohen Glasfassaden eifrig Akten, Dokumente, Gesetze und Verträge zu studieren. Dabei kam sie rasch zu dem Schluss, dass die Europäische Gemeinschaft im Kern eine aufgeblähte, korrupte Behörde sei, bei der es vorrangig gelte, die Interessen von Großkonzernen und Banken zu wahren. Sie scheute sich nicht, diese Erkenntnis laut und unumwunden kundzutun und steigerte sich so sehr in Rage, dass sie eines Tages das Büro des damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Sicco Mansholt betrat und auf diesen wie ein Wasserfall einredete, um ihre Empörung nachhaltig zum Ausdruck zu bringen.
Wenige Tage darauf wurde sie zu Sicco Mansholt gerufen, was sie in helle Aufregung versetzte. Hatte sie es übertrieben? Hätte sie mit diesem hohen Beamten und letztlich ihrem Vorgesetzten respektvoller sprechen müssen? Wäre ein loyales Auftreten gegenüber der EG, ihrem eigenen Arbeitgeber, geboten gewesen? Womöglich würde die kompromisslose Ehrlichkeit sie ihren gerade erst angetretenen Arbeitsplatz kosten. Nervös betrat sie Mansholts Büro. Dieser begrüßte sie ausgesprochen freundlich und zeigte sich beeindruckt von Kellys Tatkraft und Courage. Im Übrigen sei er voll und ganz ihrer Meinung. Kelly war perplex, zumal Mansholt im weiteren Verlauf des Gesprächs deutlich durchblicken ließ, dass er sich sehr von ihr als Person angezogen fühlte und sich mit einem Kuss auf die Wange von ihr verabschiedete. Petra Kelly war verwirrt. Der Mann beeindruckte sie. Er wirkte souverän und aufrichtig, stimmte offenbar in vielen Fragen mit ihr überein und sie schätzte seine Energie, die ihrer sehr ähnlich war.
Mansholts Amtssitz befand sich im monströsen Berlaymont-Gebäude, an dem ich allmorgendlich auf meinem Weg zur Metrostation entlanggehe und das bis zum heutigen Tag die Europäische Kommission beherbergt. Der aufgrund seiner Umweltfreundlichkeit preisgekrönte Komplex weist einen eigentümlichen kreuzförmigen Grundriss mit vier ungleich großen Flügeln auf. Ich blicke an den Glasfronten bis zum 13. Stockwerk hinauf, in dem die heutige, 1958 in Brüssel geborene Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht nur ihr Büro bezogen hat, sondern zugleich auch wohnt.
Ein kurzer Fußmarsch führt mich zu dem Haus der Europäischen Geschichte, hinter dessen edler Natursteinfassade ich die Selbstdarstellung der Europäischen Union besichtigen werde.
Nach erfolgter Sicherheitskontrolle betrete ich, ausgestattet mit einem ausgehändigten Tablet, das mich bei meinem Rundgang mit Informationen unterstützen soll und sich rasch als hilfreich erweist, die über mehrere Stockwerke ausgedehnte Ausstellung, die mir die europäische Geschichte anhand von Objekten und Dokumenten innovativ und ansprechend präsentiert.
Mein aufschlussreicher sowie kurzweiliger Rundgang endet mit einem Blick in die Zukunft der EU, bei dem Fragen der künftigen Erweiterung und Überlegungen zum demografischen Faktor angestoßen werden. Eine kritische Auseinandersetzung und moralische Aufarbeitung von Themen wie der Sicherung der Außengrenzen, der täglich ertrinkenden Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sowie der drängenden sozialen Herausforderungen werden jedoch weitestgehend ausgeblendet.
Derartige Fragen bewegten Petra Kelly nachdrücklich und lösten nach eigenen Aussagen bei ihr die wesentliche Motivation für ihre Tätigkeit in Brüssel aus. 1973 wurde sie zur Verwaltungsreferendarin im Wirtschafts- und Sozialausschuss ernannt und schon bald darauf zur Verwaltungsrätin im Sekretariat der Fachgruppen Sozialfragen, Umweltschutz, Gesundheitswesen und Verbrauch befördert. Die nicht nachweisbare Mutmaßung, sie habe diesen raschen beruflichen Aufstieg Mansholt zu verdanken, erscheint zwar naheliegend, doch war sie zweifellos eine unbequeme, aber überaus gewissenhafte, kluge, engagierte und außergewöhnlich fleißige Bedienstete, die sich ihre Beförderung verdient hatte.
Fortan befand sich ihr Arbeitsplatz in der lebhaften Rue Ravenstein, wo sie im 5. Stock des damaligen Ausschusssitzes, der heute in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem eben besuchten Haus der Geschichte beheimatet ist, ihr Büro bezog.
Zu jener Zeit konnte sie durch das geöffnete Fenster noch nicht das nahe „Glockenspiel am Kunstberg“ hören, welches, nachdem es jahrzehntelang nahezu unbeachtet verfallen war, erst vor wenigen Jahren liebevoll restauriert und wieder in Betrieb gesetzt wurde. Als ich in die ruhige Seitenstraße Mont des Artes einbiege, fällt mein Blick sogleich auf die an einer Fassade oberhalb einer Durchfahrt angebrachte und von zwölf in die Wand eingelassenen Figuren, die mit der Brüsseler Stadtgeschichte verbunden sind, umgebene goldene Uhr. Ich schaue auf die leuchtenden Zeiger und erkenne erfreut, dass das historische Glockenspiel in wenigen Augenblicken ertönen wird. Als ich auf dem Dachfirst die größte Glocke erblicke, springt der Zeiger auf die Zwölf und eine knapp drei Meter große Figur schlägt mit einem Hammer auf jenen Gong und eine vielstimmige Melodie erklingt, die in den umliegenden Straßen widerhallt.
Einige Wochen nach ihrem Zusammentreffen mit Sicco Mansholt hielt sich Petra Kelly beruflich in New York auf, wo sie ein unerwartetes Telegramm vom Präsidenten der Europäischen Kommission erhielt. Er käme am kommenden Tag in die Stadt, um dort an einer UN-Versammlung teilzunehmen und würde sich freuen, wenn sie ihn am Flughafen abholen würde. Dort begrüßte er Kelly mit einem Strauß roter Rosen, einem Kuss und der Aussage, er wolle fortan mit ihr zusammenleben. Petra Kelly war verdutzt über diese übergriffige Liebeserklärung, die in ihrer Form ihrer feministischen Grundhaltung völlig zu widersprechen schien. Doch sie fühlte sich zu ihrem verheirateten und erheblich älteren Verehrer hingezogen, sodass sie bereits am nächsten Tag Mansholt zu der UN-Versammlung begleitete, wo dieser seine 40 Jahre jüngere Begleiterin selbstbewusst als seine Lebensgefährtin vorstellte.
In Brüssel zogen die beiden schon bald auf Kellys Wunsch in eine bescheidene und für Mansholts Ansprüche sicherlich zu kleine 3-Zimmer-Wohnung am Square Marguerite, der ein Treffpunkt für Kinder, Jugendliche und SportlerInnen zu sein scheint, die sich hier auf einem von einer berankten Pergola umgebenen Spielplatz, einem Basketball- sowie einem Fußballfeld austoben können.
Der unmittelbar angrenzende Square Ambiorix, verströmt eine entspannte Atmosphäre. Ich betrete die zentrale, terrassenförmig angelegte Parkanlage, in der MitarbeiterInnen der nahe gelegenen EU-Institutionen auf den Bänken mit Blick auf bepflanzte Beete, Skulpturen und Wasserspiele ihr Mittagssandwich verzehren.
Durch die Äste der umliegenden Sträucher hindurch entdecke ich zwischen den benachbarten Bürgerhäusern eines der extravagantesten Beispiele des Brüsseler Jugendstils, das mich mit seiner ausufernden Verspieltheit an eine Theaterkulisse erinnert. Das Maison Saint-Cyr, benannt nach dem Maler George Léonard de Saint-Cyr (1854-1922), der in dem Gebäude gelebt hat und dessen Fantasie die aufsehenerregende Architektur entsprungen ist, misst in der Breite lediglich vier Meter. Neben dieser Kuriosität bezaubert es aufgrund der filigranen Schmiedeeisenarbeiten, die das Gebäude prägen. Im obersten Stockwerk blicke ich auf eine kreisrunde Fensteröffnung und frage mich, wie es hinter dieser aussehen mag. Ist das Haus innen ähnlich einzigartig gestaltet? Wie mögen sich die jetzigen BewohnerInnen eingerichtet haben? Da sich das Haus in Privatbesitz befindet und somit nicht zu besichtigen ist, bleiben diese Fragen dauerhaft unbeantwortet.
Die Affäre mit dem mächtigen, wesentlich älteren und verheirateten Sicco Mansholt, der eine reizvolle Mischung aus Macht und Fürsorge ausstrahlte, hielt etwa zwei Jahre. Petra Kelly, die bei allem sozialen Engagement in ihren persönlichen Beziehungen nicht wenig egoistisch war, suchte womöglich unbewusst jemanden, der sich um sie kümmerte, sie bei alltäglichen Verrichtungen unterstützte oder ihr diese gänzlich abnahm. Ihr zierliches Äußeres, das sie zudem durch einen mädchenhaft Kleidungsstil unterstrich, sprach möglicherweise verstärkt fürsorgliche Männer an, doch auch Sicco Mansholt war es gewohnt, dass man sich um ihn sorgte, sodass sich das ungleiche Paar im Einvernehmen trennte, aber freundschaftlich verbunden blieb.
In der internationalen Politik deuteten sich zu jener Zeit Entspannung und der Ausgleich von Interessen an, als sich 1972 die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR normalisierten, indem im Rahmen der Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt das Transitabkommen und den Grundlagenvertrag abgeschlossen wurden.
Inspiriert durch diese Politik trat Petra Kelly in die SPD ein und wurde zudem Mitglied im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), einem neu gegründeten Dachverband, der die zahlreichen lokalen Umwelt- und Naturschutzinitiativen vereinte, um ihnen zu bundesweiter Aufmerksamkeit zu verhelfen.
Zu jener Zeit rief sie zudem mit Bekannten, Freunden, betroffenen Eltern und Ärzten die bis heute bestehende Grace P. Kelly Vereinigung e.V. ins Leben, die an ihre im Februar 1970 im Alter von zehn Jahren an Krebs verstorbene Halbschwester erinnert.
Petra Kelly musste miterleben, wie die an einem bösartigen Tumor erkrankte Grace im Krankenhausbett liegend die Idee von einem Kinderplaneten erträumte, einem Ort, an dem kranke Kinder spielen, toben, malen und musizieren konnten und ihnen die Erwachsenen ausreichend Zeit und Zuneigung schenkten. Petra Kelly kämpfte zeitlebens mit enormem Engagement dafür, den Traum vom Kinderplaneten zu realisieren.
Die Grace P. Kelly Vereinigung hat es sich zum Ziel gesetzt, in Krankenhäusern eine psychosoziale Abteilung für krebs- und chronisch kranke Kinder zu schaffen. Dieser „Kinderplanet“ soll eine auf kindliche Vorlieben abgestimmte, behütete Umgebung bieten.
Einige Kinder spielen, toben und klettern unter meinen und den wachsamen Augen ihrer Eltern ausgelassen auf einem Spielplatz im weitläufigen und geometrisch konzipierten Parc de Bruxelles. Die Grünanlage ist mit zahlreichen Skulpturen, unter denen ich Götter, Kaiser und Fantasiewesen ausmachen kann, geschmückt. Unweit des Kinderspielplatzes erblicke ich eine etwa zwei Meter hohe Bronzestatue, die meine Aufmerksamkeit erregt, da sie kein Individuum, sondern eine symbolische Handlung veranschaulicht. Eine geöffnete Hand lässt einen Vogel, der im Begriff ist, in die Höhe aufzusteigen, frei. Auf dem Sockel lese ich in verschiedenen Sprachen die Inschrift: „Der Bote – für die verschwundenen Kinder“. Das Denkmal erinnert an die erschütternden Ereignisse, die Mitte der 1990er-Jahre aufgedeckt wurden und seinerzeit die Welt in eine Schockstarre versetzt haben. Der Mörder und Sexualstraftäter Marc Dutroux hatte mithilfe seiner MittäterInnen Kinder und Jugendliche entführt, missbraucht und ermordet. Nicht nur die abscheulichen Verbrechen, auch die eklatanten Fehler und Ungereimtheiten bei den polizeilichen Ermittlungen machten und machen bis heute fassungslos.
Vorbei an verliebten Paaren und lachenden Kindern, die mir auf meinem Weg auf von Kletterpflanzen überrankten Alleen begegnen, erreiche ich den nördlichen Ausgang des Parks und stehe vor dem klassizistischen, herrschaftlich wirkenden Palais de la Nation, dem Sitz des belgischen Parlaments und erreiche bald darauf den riesigen Justizpalast.
Ich blicke auf die über hundert Meter hohe Kuppel, die den monumentalen Charakter des gewaltigen Bauwerks unterstreicht. Mit dem Vorbild des Pariser Palais de Justice wurde Ende des 19. Jahrhunderts das Gebäude in einer ungestümen Mischung verschiedener Architekturstile errichtet, womit ein weithin sichtbares Symbol für die Rechtsstaatlichkeit und Größe Belgiens geschaffen werden sollte. Unmut innerhalb der Bevölkerung löste der Bau bereits bei dessen Planung aus, mussten doch etwa 3000 Häuser, in denen vorrangig einkommensschwache Arbeiter lebten, für das gigantische Vorhaben weichen. Ich betrachte die eingerüstete Fassade – ein Anblick, der den Brüsselern allzu vertraut ist, denn das marode Gebäude, in dem zahlreiche Räume nicht mehr nutzbar sind, wurde bereits vor Jahrzehnten mit dieser Stahlkonstruktion versehen, um Passanten vor herabfallenden Bauteilen zu schützen. Mittlerweile ist selbst jenes errichtete Gerüst baufällig geworden, da für den Justizpalast keine zufriedenstellende Bestimmung gefunden wird und dessen Erhaltung politisch umstritten ist.
Am Nordflügel entdecke ich zwei parallele, gläserne Fahrstuhlkabinen, von denen ich eine besteige, in Sekunden einen Höhenunterschied von 30 Metern überwinde und auf den Place Poelaert befördert werde, von dem ich an einer steinernen Balustrade eine schöne Aussicht über den nördlichen Teil Brüssels genieße. Ich erblicke die schnurgerade Rue de la Régence, die unmittelbar zum Königspalast führt, die Altstadt, aus deren Dächern ich die herausragende Rathausspitze ausmachen kann und die Basilika auf dem Koekelberg.
Die Glasfronten des EU-Bürokomplexes, hinter denen Petra Kelly ein nahezu unmenschliches Arbeitspensum absolvierte, befinden sich in meinem Rücken. Bis in die Nacht studierte sie Berge von Akten, die sich in ihrem Büro türmten, nahm an Wochenenden an Demonstrationen, Kongressen und Diskussionen teil, reduzierte ihren Schlaf auf maximal 5 Stunden pro Nacht und betrieb Raubbau an ihrem Körper. Innerhalb der Brüsseler Behörde blieb sie isoliert. Freundschaften ergaben sich in ihrem Berufsalltag offenbar nicht und beim gemeinsamen Feierabendbier unter KollegInnen suchte man sie vergebens.
Diese treffen sich heutzutage unter anderem in der in unmittelbarer Nähe zum Parlament gelegenen Beer Factory, einem Szenelokal, das nicht zuletzt EU-Angestellte und Parlamentarier anlockt, die hier ihren Arbeitstag ausklingen lassen. Ich ergattere um die Mittagszeit neben einem Herrn mittleren Alters, der sich soeben eine Karaffe Weißwein bestellt, einen Tisch auf der Terrasse und ordere einen Burger sowie ein Bier.
Das in dieser Lokalität namensgebende belgische Bier gehört zu den sortenreichsten der Welt. International ist das Land für seine untergärigen Biere wie das Stella Artois oder das innerhalb der Stadt weitverbreitete Jupiler bekannt. Die Einheimischen trinken gerne sogenanntes Champagner-Bier, das längere Zeit in Fässern gärt, abgefüllt in Flaschen wie Champagner gelagert wird und für den deutschen Geschmack recht säuerlich wirkt. Daneben gibt es die etwas gefälligeren Abteibiere, die jedoch einen enorm hohen Alkoholgehalt aufweisen, sowie die Amberbiere, die an britisches Ale erinnern und leichte Karamellnoten offenbaren. Zumindest für meinen Gaumen erweisen sich die mit Fruchtkonzentrat versetzten Biere, die in ihrer bekanntesten Version nach Kirsche schmecken, als geschmacklich außerordentlich herausfordernd.
Erfreulicherweise erweist sich meine heutige Bierwahl als ebenso zufriedenstellend wie mein mit Pommes frites servierter Burger. Mein von jedem der anwesenden Kellner persönlich begrüßter Sitznachbar bestellt sich mit einer souveränen Geste eine weitere Karaffe Wein. Er ist offenbar ein Stammgast und hat höflich gewartet, bis ich meinen letzten Bissen hinuntergeschluckt und mein Besteck abgelegt habe, um sich zu erkundigen, wie es mir geschmeckt habe. Der Herr gibt sich als Franzose zu erkennen, bietet aber an, sich mit mir auf Deutsch, was er sehr gut beherrscht, zu unterhalten und schiebt lächelnd ein kleines Schälchen Popcorn zu mir herüber, das er kontinuierlich zu jeder Weinbestellung erhalte, es in diesen Mengen aber nicht benötige. Als ein Kellner naht, um mein Geschirr abzuräumen, ordert er seine dritte Karaffe Wein, was ich angesichts der Tageszeit sowie des angeschlagenen Tempos für ambitioniert halte. Diesen Gedanken gebe ich anscheinend mit meiner Mimik ungewollt zu erkennen, denn er führt gut gelaunt aus: „Normalerweise schaffe ich vier Karaffen während der Mittagspause.“ Augenzwinkernd fügt er hinzu: „Sonst würde ich den ganzen Blödsinn nicht ertragen.“ Ich frage mit sarkastischem Unterton, ob er EU-Parlamentarier sei und ernte ein verschmitztes Lächeln. „Ja … genau das bin ich.“
Es stellt sich heraus, dass es sich bei meinem Sitznachbarn und Gesprächspartner um einen französischen Abgeordneten handelt. Wir einigen uns darauf, seinen Namen sowie seine Parteizugehörigkeit vertraulich zu behandeln, worauf ich im Gegenzug bemerkenswerte Einblicke in den Arbeitsalltag eines EU-Parlamentariers erhalte. Zunächst eröffnet er mir, sein bedeutendstes Tageswerk bereits heute Vormittag vorschriftsmäßig erledigt zu haben. „Wichtig ist, sich morgens in die Anwesenheitsliste einzutragen. Dann bekomme ich nämlich 338 € Vergütung für den Tag.“ Ich beginne im Kopf zu rechnen, schätze die Anzahl der Parlamentssitzungen pro Monat, runde, multipliziere und komme zu dem vorübergehenden Schluss, dass von dem Gehalt zwar ein menschenwürdiges Leben möglich ist, aber es sich um ein weitaus weniger üppiges Einkommen handelt als vermutet. Doch in dem Moment schaltet sich mein Gesprächspartner, der meine Gedanken gewiss erahnt, ein. „Nicht falsch verstehen… ich bekomme grundsätzlich mehr als 7000 € netto im Monat. Die 338 € kommen hinzu, wenn ich anwesend bin.“ Ich muss zumindest innerlich lachen. Somit ergibt sich eine gänzlich andere Zahl auf dem monatlichen Kontoauszug meines Gegenübers. Kaum habe ich erkannt, auf das Überreichen einer mildtätigen Spende getrost verzichten zu können, ergänzt er mit einem zynischen Lachen, dass für die Unterhaltung seines Büros, Spesen- und Reisekosten selbstverständlich weitere Töpfe zur Verfügung stünden.
Es folgen weitere amüsante Schilderungen, die mir verdeutlichen, jemandem gegenüberzusitzen, der seine Tätigkeit mittlerweile desillusioniert als nahezu sinnlos, jedoch überaus gut bezahlt betrachtet und sich mit Sarkasmus den Alltag erträglich gestaltet. Als den Gipfel der Absurdität empfände er den Aufwand, der betrieben würde, um jährlich zwölf Plenarsitzungen im 400 Kilometer entfernten Elsass stattfinden zu lassen. „Alle vier Wochen reisen wir Abgeordneten mit den Mitarbeitern nach Straßburg. Dazu wird alles zusammengepackt, was wir dort benötigen. Akten, Unterlagen, Büromaterial … Alles wird in große Kisten gepackt und mit Trucks von Brüssel nach Straßburg gefahren.“ Wie ich später nachlese, summieren sich laut einer Studie des Europäischen Rechnungshofs die Unkosten für die beschriebene Reisetätigkeit auf 114 Millionen Euro pro Jahr.
KritikerInnen beanstanden darüber hinaus die beträchtlichen Umweltbelastungen, die durch die monatlichen Umzüge entstehen und etwa 20.000 Tonnen CO² pro Jahr verantworten. „Das ist totaler Wahnsinn… wir diskutieren und beschließen Gesetze zur Reduzierung von CO² und machen selbst so einen Unsinn“, schüttelt der Franzose den Kopf. „Aber es wird noch besser …“, lacht er und nimmt beherzt einen Schluck Wein. „Mehr als 100 Dienstlimousinen fahren jeden Monat leer hin und her, damit sie uns in Straßburg zur Verfügung stehen.“ Mein Gegenüber muss sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel wischen.
Ich sitze weitaus länger als geplant mit diesem sympathischen und von Sarkasmus gezeichneten Herrn, der seine Mittagspause kurzfristig verlängert hat („ob ich da sitze oder nicht…“), zusammen. Schließlich verabschieden wir uns herzlich und ich bedanke mich für den Wein, den er mir zwischenzeitlich bestellt hat. „Du brauchst dich nicht zu bedanken… letztlich bezahlst du ihn sowieso“, lacht er ein letztes Mal, bevor ich das Lokal verlasse.
Ich trete auf den breiten Gehweg des von Restaurants und Bars dominierten Place du Luxembourg, der im 19. Jahrhundert im damals prestigeträchtigsten Viertel Brüssels symmetrisch und im neoklassizistischen Stil angelegt wurde.
Ich blicke auf die ehemalige Bahnhofshalle, die einst den Platz geprägt hat und hinter der sich heute die hohen Glasfronten des beeindruckend hässlichen EU-Parlamentsgebäudes türmen, das den Charakter des Ortes nachhaltig verändert hat. Was der Zweite Weltkrieg, der in Brüssel wenig Zerstörungen hinterlassen hat, nicht vollbracht hat, bewerkstelligten die EU-Bauten der 1990er-Jahre scheinbar mühelos. Ich versuche mir den Platz ohne die verspiegelten, überdimensionierten und architektonisch in keiner Weise in ihre Umgebung integrierten Bürokomplexe vorzustellen und sehe vor meinem inneren Auge eine geradezu idyllische, charmante Oase inmitten der Stadt, in der sich Freunde, Familien und verliebte Paare in den Abendstunden treffen.
Die frisch verliebte Petra Kelly hätte man hier vermutlich dennoch nicht angetroffen. Nach dem Ende der Affäre mit Sicco Mansholt ging sie 1975 eine Beziehung mit dem ebenfalls verheirateten und 20 Jahre älteren irischen Gewerkschaftsführer John Carroll ein. Die beiden galten fortan als das „Traumpaar der alternativen Szene“ und reisten gemeinsam um die Welt, um an Demonstrationen, Protestaktionen und politischen Zusammenkünften teilzunehmen. Petra entwickelte sich zu einer beliebten Rednerin in den USA, Australien und Japan. Wo auch immer sie sprach, sie faszinierte und begeisterte Ihre ZuhörerInnen. Im Gegensatz zu ihrem beruflichen Alltag, erntete sie viel Anerkennung und stieß auf offene, interessierte Ohren.
Ich habe derweil den unscheinbaren Besuchereingang des EU-Parlaments erreicht, an dem ich nach erfolgtem Sicherheitscheck mit einem Multimediaguide ausgerüstet werde und nun das ovale Gebäude zumindest in Teilen, denn manche Annehmlichkeiten wie eine Bar, Saunen und Friseure bleiben den Abgeordneten vorbehalten, erkunden kann. Ich betrete die Empore über der großzügigen Eingangshalle, in deren Zentrum eine 36 Meter hohe Stahlplastik, die die fragile Stabilität der EU symbolisieren soll, als effektvoller Blickfang dient und erreiche über lange, mit sehenswerten Kunstwerken aus den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten bestückte, grell ausgeleuchtete Gänge den lichtdurchfluteten Plenarsaal, der mehr als 750 mitunter ungestüm gestikulierenden Abgeordneten Platz bietet. Mein Blick wandert über die verwaisten Sitzreihen, hoch zu den Kabinen der Dolmetscher, die alles, was hier gesprochen wird, in die derzeit 24 vertretenen Amtssprachen übersetzen und dem Podium für das Parlamentspräsidium, während mir die amtierende Parlamentspräsidentin Roberta Metsola die Arbeitsweise des Gremiums auf meinem Multimediaguide erläutert und ich diese Informationen schmunzelnd mit denen von meinem Gesprächspartner in der Beer Factory abgleiche.
In späteren Jahren hat Petra Kelly mit dem Gedanken gespielt, für das EU-Parlament zu kandidieren. Es bleibt für mich fraglich, ob sie an diesem Ort ihr Engagement als zielführend und sinnvoll eingesetzt empfunden hätte. Wohl fühlte sie sich in Brüssel ohnehin nie und blickte später bitter zurück: „Das war eine Männerbastion, in der die Männer jeden Morgen mit von ihren Hausfrauen in der Vorstadt frisch gebügelten Hemden ins Büro kamen und die Frauen als Sekretärinnen Kaffee kochten. Ich bin dort nur ausgebeutet und seelisch unterdrückt worden.“
Unweit des Parlaments entdecke ich die „Einheit in Frieden“ betitelte, mehr als 5 Meter hohe aus Polyesterharz gefertigte Statue, die der französischen Bildhauer Bernard Romain der Europäische Kommission geschenkt hat, die für diese jedoch offenbar nur einen etwas unscheinbaren Standort finden konnte. Hinter einem abweisenden Zaun verborgen und an einer vielbefahrenen Straße gelegen, ist der zumindest für mein Empfinden unausgesprochenen Aufforderung, das Kunstwerk zu berühren, nicht nachzukommen. Sehbehinderte Kinder haben unter Leitung des Künstlers die Statue geformt und bemalt, womit Romain darlegen wollte, dass körperliche Einschränkungen niemals ein Ausschlussfaktor darstellen müssen und dürfen.
Die Skulptur erhebt den Anspruch, das europäische Motto „In varietate concordia“ („Einheit in der Vielfalt“) zu versinnbildlichen. Ich blicke durch die eisernen Gitterstäbe auf die eng ineinander verschlungenen Arme, die in ihren diversen Farben die Flaggen der europäischen Gemeinschaft sowie Menschen aus sämtlichen Gesellschaftsschichten symbolisieren sollen und sich, überragt von einer Friedenstaube, um einen Globus vereinen. Vielleicht ist es angemessen, das Kunstwerk etwas abseits der allgemeinen Aufmerksamkeit aufzustellen, um die bestehende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht allzu erkennbar werden zu lassen.
Nach wenigen Gehminuten erreiche ich den belebten, von Restaurants und Cafés gesäumten Place Jourdan, in dessen Zentrum ich sogleich das „Maison Antoine“ erblicke. Die Bezeichnung „Maison“ erscheint ein wenig hochgegriffen, handelt es sich doch auf den ersten Blick „lediglich“ um eine Pommesbude. Doch stehe ich nicht vor irgendeiner der zahllosen Imbisse dieser Stadt, sondern vor einer Institution, die 1948 von Antoine Desmet eröffnet wurde und sich zur wohl beliebtesten Pommesbude Brüssels gemausert hat.
Ich reihe mich in die Warteschlange ein, in der auch Angela Merkel einst gestanden hat, um sich während einer Sitzungspause zu stärken. In einer in Belgien obligatorischen Papiertüte, die im Gegensatz zu den bei uns bekannten Schälchen das Fett aufsaugt, erhalte ich meine, wie es in Belgien üblich ist, aus frischen Kartoffeln hergestellten und zweimal in Rinderfett frittierten Pommes. Weltgewandt habe ich sie mit einer Sauce Tartar bestellt, wohlwissend, dass Ketchup und Mayonnaise hier lediglich für unwissende Touristen bereitgehalten werden.
Die Belgier haben weltweit den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Pommes frites und es ist gut möglich, dass die frittierten Kartoffelstäbchen hier erfunden wurden. Ein aus dem Jahr 1781 stammendes Dokument berichtet erstmals von der Zubereitung auf dem Gebiet des heutigen Belgien und als gesichert gilt, dass Pommes spätestens im 19. Jahrhundert auf belgischen Jahrmärkten angeboten wurden, wohingegen sie sich in Deutschland nicht vor der Jahrhundertwende etablierten und US-amerikanische Soldaten sie erst im Verlaufe des Ersten Weltkrieges in Belgien kennengelernt haben.
Ob sich die stets gehetzte und schlecht ernährte Petra Kelly gelegentlich mit Pommes frites versorgt hat, ist nicht bekannt, doch vermutlich fehlte ihr, die im engeren Bekanntenkreis dafür bekannt war, Mahlzeiten schlicht zu vergessen, selbst dazu die Zeit. Die handbetriebene Frischkornmühle, die ihr die Schauspielerin Barbara Rütting mit der Mahnung, stärker auf eine gesunde Ernährung zu achten, geschenkt hatte, kam mutmaßlich nie zum Einsatz.
Hinter Kellys Wohnungstür, an der Poster von Rosa Luxemburg und Martin Luther King klebten, stapelten sich Aktenberge in überquellenden Regalen, auf den Tischen und Ablagen sowie dem Fußboden. Eine gemütliche Wohnatmosphäre sieht anders aus.
Wie Petra Kelly einige Jahre später bekannt gab, „verlor“ sie 1978 „aus medizinischen Gründen“ ein Kind in der sechsten Schwangerschaftswoche. Da sie sehr gerne Mutter geworden wäre, war dies eine niederschmetternde Situation, an der wohl auch die Beziehung zu John Carroll zerbrach. Sie formte das eigene Leiden zu einem politischen Argument. „Aufgrund vieler Nierenoperationen über Jahre hinweg“, erklärt sie, „wurde ich seit dem siebten Lebensjahr sehr häufig geröntgt. 1978 verlor ich aus medizinischen Gründen ein Kind […] Dass es an den Röntgenaufnahmen lag, kann ich niemals beweisen… Doch wenn sie schon bei einem Fötus irren – wie steht es dann mit der gesamten Atomindustrie?“
In den späten 1970er-Jahren rückte in der wachsenden deutschen Anti-AKW-Bewegung der Streit um das Atommülllager im niedersächsischen Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Bei Großdemonstrationen kamen bis zu 100.000 KundgebungsteilnehmerInnen zusammen, um ihren Protest gegen das geplante atomare Entsorgungszentrum zu artikulieren. Die Bewegung gab den Anstoß zur Gründung der Grünen Listen, die später zur Bildung der Partei Die Grünen führte und bei der niedersächsischen Landtagswahl 1978 mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Mombaur aus Gorleben beachtliche 3,9 Prozent erzielte.
Petra Kelly engagierte sich für die entstehende „Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion“ im Landkreis Lüchow-Dannenberg, wurde in zahlreichen Gremien wie der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner e. V., der „Union Syndicale“ in Brüssel und der Humanistischen Union aktiv und Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Forum Europa“. Ferner unterstützte sie gewaltfreie Frauen-, Ökologie- und Friedensbewegungen in Europa, den USA, Japan und Australien. Die umtriebige und rastlose Frau spannte in ihrem Umfeld ein immer weiter verzweigtes Netzwerk, aus dem sich unter anderem die zukünftigen Grünen entwickeln sollten.
Ich betrete derweil das Pflaster des atemberaubenden Grand Place, der als einer der attraktivsten Plätze Europas gilt und von Jean Cocteau als „schönstes Theater der Welt“ bezeichnet wurde.
Der Name der belgischen Hauptstadt setzt sich aus den beiden Wortbestandteilen bruk (= Sumpf) und sel (=Wohnort) zusammen. Ähnlich wie die deutsche Stadt Bruchsal bedeutet der Name Brüssel demnach „Wohnort im Sumpf“, womit nicht auf Korruption und politische Gaunereien angespielt wird, sondern auf die feuchte Landschaft, in welcher die Siedlung einst entstanden ist. Unter meinen Füßen befand sich einst morastiger Grund, der im 12. Jahrhundert trockengelegt wurde. Nach ersten Bebauungen wurde der Ort zunehmend als Marktplatz genutzt, an dem sich Händler und Handwerker ansiedelten, bevor im 14. Jahrhundert mehrere öffentliche Gebäude wie das elegante Rathaus errichtet wurden. Mein Blick wandert über die mit Skulpturen geschmückte Fassade hinauf zu dem 91 Meter hohen Turm, auf dessen Spitze der Erzengel Michael, der Schutzpatron der Stadt Brüssel, über das quirlige Geschehen auf dem Grand Place wacht.
Dort trachten die Passanten nach einem der begehrten Terrassenplätze der anliegenden Cafés, um bei einem Getränk den Ausblick auf die vergoldeten, einheitlichen Fassaden der barocken Bebauung zu genießen.
Petra Kelly war in Brüssel in die SPD eingetreten und am 17.2. 1979, dem Jahrestag des Todes ihrer Schwester Grace, trat sie aus der Partei aus. Sie war der Ansicht, dass der amtierende Bundeskanzler Helmut Schmidt sich zunehmend von den Prinzipien Willy Brandts entferne, und weigerte sich, dessen Pläne zur Stationierung US-amerikanischer Pershing-Raketen mitzutragen. In einem offenen Brief an Helmut Schmidt erklärte sie zudem: „Die Sozialdemokratische Partei und Sie sind dem sich aufdrängenden Zusammenhang zwischen Umweltbelastungen und Gesundheitsgefährdungen nicht gerecht geworden […] Die Sozialdemokratische Partei hätte sich schon seit langem intensiv dafür einsetzen sollen, dass wenigstens eine bescheidene Grundlage für die notwendige Erforschung von Zusammenhängen zwischen Umweltbelastungen und Krankheiten wie Krebs gelegt wird.“ Schließlich kündigte sie eine „neue Form der politischen Vertretung“ an, „wo nicht nur der Lebensschutz und der Frieden endlich Priorität erhalten werden, wo aber auch der Grundsatz von der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen praktiziert wird.“
Ihre Unfolgsamkeit teilte Petra Kelly mit den als renitent geltenden BewohnerInnen Brüssels, deren Hang zur Aufmüpfigkeit gar ein Denkmal errichtet wurde, das sich zum Wahrzeichen der Stadt entpuppt hat und das ich mutmaßlich übersehen hätte, wäre nicht die Menschentraube auf dem Gehsteig gewesen. Mit ihren Kameras oder Smartphones in den Händen fotografieren die rund 30 Touristen aus verschiedenen Blickwinkeln das Manneken Pis, einen kleinen, unbekümmert pinkelnden Jungen, der in der Ecke einer Straßenkreuzung einen Brunnen schmückt.
Die lediglich 61 Zentimeter hohe Bronzestatue wurde im 17. Jahrhundert von dem Brüsseler Bildhauer Jérôme Duquesnoy geschaffen, jedoch wiederholt gestohlen, weshalb ich auf eine Kopie blicke, die auch am heutigen Tag mit einem der knapp 1000 bereitliegenden Kostümen eingekleidet ist.
Anlässlich des Brüsseler Christopher-Street-Days hat der französische Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier dem urinierenden Jungen ein maßgeschneidertes Outfit entworfen, ihm eine schwarze Mütze mit Hörnern aufgesetzt und einige Kettchen um die Hüfte geschwungen.
Die weitaus meisten Kostüme erhielt die Stadt Brüssel von Staatsgästen, Prominenten oder Organisationen als Geschenk. Der Legende nach soll der Ursprung dieser Tradition im späten 17. Jahrhundert liegen, als französische Soldaten den wasserlassenden Jungen entwendet hatten, ihn jedoch nach leidenschaftlichen Protesten der Brüsseler BürgerInnen zurückgaben und Ludwig XV. als Zeichen der Wiedergutmachung ein Kostüm beifügte.
Heute besitzt der beneidenswerte kleine Kerl Kleider aus aller Welt, darunter Seidengewänder aus China, traditionelle russische Kosakenkleidung sowie Trachten mehrerer deutscher Karnevalsgesellschaften. Zum Geburtstag von Elvis Presley trägt der wandelbare Pinkler einen weißen, strassbesetzten Overall und zum Jahrestag der Abschaffung der Apartheid in Südafrika ein an Nelson Mandela erinnerndes langes, grün-gold gemustertes Hemd.
Der durch das Manneken Pis versinnbildlichte Widerstandsgeist der Brüsseler zeigte sich nicht zuletzt während des Zweiten Weltkrieges, als die Stadt die Einführung des Judensterns verweigerte, da dieser laut des damaligen Bürgermeisters Jules Coelst „offen gegen die Würde des Menschen verstößt.“ Auch an den von den deutschen Besatzern angeordneten Razzien gegen Juden beteiligte sich die Brüsseler Polizei nicht.
Von Widerstandsgeist geleitet waren auch die Gruppierungen, die sich in den vergangenen Jahren zusammengefunden hatten, um gegen die Atomkraft, die Nachrüstung oder staatliche Bauvorhaben zu protestieren und sich am 16. / 17. März 1979 in einer kleinen Stadthalle in Frankfurt-Sindlingen zusammenfanden, um sich zu der „Sonstige Politische Vereinigung / Die Grünen“ zusammenzuschließen. Zugleich entschied die Wählergemeinschaft, die zu dem Zeitpunkt noch keine Partei nach deutschem Wahlrecht war, an der Wahl zum Europäischen Parlament teilzunehmen, die bereits zwei Monate später abgehalten wurde.
Als anerkannte und über die deutschen Grenzen hinaus bekannte Vertreterin der Anti-Atomkraft-Bewegung wurde Petra Kelly zur Spitzenkandidatin gekürt. Lukas Beckmann, späterer Fraktionsgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, erinnert sich an die ereignisreichen Tage: „Petra Kelly hatte als Einzige von uns wirklich internationale Erfahrung. Sie war seit Anfang der 70er-Jahre Verwaltungsrätin bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel. Sie wusste, wie Apparate funktionieren, aber auch, wie man mobilisiert. Schließlich hatte sie sich in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung engagiert.“
Kelly nahm zwei Monate unbezahlten Urlaub und organisierte ihren ersten Wahlkampf, mit dem sie aus dem Stand respektable 3,2 % für die neugegründete Wählergemeinschaft erzielen konnte.
Als im Januar 1980 in der Karlsruher Stadthalle die Aufforderung „Wer diesem Gründungsbeschluss zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen…“ durch den hoffnungslos überfüllten und vom Zigarettenrauch verqualmten Saal tönte, reckten sich mehr als 1.000 Hände in die Höhe. Motiviert von dem Achtungserfolg bei der zurückliegenden Europawahl erfolgte somit die Gründung der Partei Die Grünen. Hinter den Delegierten lag ein nervenaufreibendes Wochenende mit teils tumultartigen Diskussionen über Umweltschutz, Frauenquote, Krieg und Frieden, Gewaltlosigkeit, Schulpflicht sowie weiteren gesellschaftspolitischen Fragen. Im Saal tummelte sich eine illustre bunte Mischung aus verschiedensten politischen und sozialen Gruppierungen, wie der Ökologie-, der Anti-Atomkraft-, der Friedens- sowie der Frauenbewegung, wobei die politische Bandbreite von Mitgliedern kommunistischer Kleinstparteien, Alt-68ern bis zu konservativen Umweltschützern reichte.
Petra Kelly zählte nicht nur zu den Gründungsmitgliedern der neuen Partei, sondern wurde zugleich zu einer der drei gleichberechtigten BundesvorstandssprecherInnen gewählt. In dieser frühen Phase zählte sie zu den prominentesten Mitgliedern der Grünen und es war nicht zuletzt ihrem temperamentvollen, unerschrockenen Enthusiasmus zu verdanken, dass diese Partei Realität wurde. Auch hatte sie gemeinsam mit Eva Quistorp, Lukas Beckmann und Roland Vogt zwei weiteren Gründungsmitgliedern den Namen und das Symbol der Sonnenblume ersonnen.
Lukas Beckmann erinnert sich vage: „Die Sonnenblume war als Symbol durch die Antiatomkraftbewegung bereits eingeführt. Eines Tages saßen wir mit ein paar Leuten zusammen und auf dem Tisch lag eine Ausgabe der Zeitschrift Forum Europa von 1978, die hatte auf der Rückseite so eine Sonnenblume. Da hat sich das zu einer Entscheidung verdichtet.“
Begleitet wurde die Gründung von teils unerbittlichen Kontroversen zwischen dem linken und dem rechten Flügel der Partei um die programmatische Ausrichtung, die auch die kommenden Jahre nachhaltig und medienwirksam prägen sollten.
Die Grünen definierten sich als „grundlegende Alternative“ zu den etablierten Parteien und bekräftigten in ihrem ersten Parteiprogramm ihr Selbstverständnis als „ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“. Einige der formulierten Forderungen trugen die erkennbar marxistische Handschrift der aus den sogenannten K-Gruppen, die nach der Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes entstanden waren, zu den Grünen übergetretenen Ökosozialisten, darunter der heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (einst Kommunistischer Bund Westdeutschland) oder der einstige Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Kommunistischer Bund).

Aus diesen Flügelkämpfen hielt Petra Kelly sich weitestgehend heraus, mutmaßlich nicht zuletzt, weil sie sich aufgrund ihrer Vergangenheit keinerlei Gruppierung zugehörig fühlte. Sie hatte ihr Leben bis zum 23. Lebensjahr in den USA und anschließend in Amsterdam und Brüssel verbracht. Aus persönlicher Erfahrung verband sie nichts mit der deutschen Studentenbewegung oder den angesprochenen K-Gruppen. Sie war politisch vielmehr durch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung geprägt worden und hatte einen globaleren Blick auf das politische Geschehen.
Am 1. November 1980 lernte sie im Rahmen einer Podiumsdiskussion Gert Bastian kennen und stritt mit dem einstigen Generalmajor der Bundeswehr zum Thema „Frauen in der Bundeswehr“. Während Kelly sich als radikale Pazifistin prinzipiell gegen Frauen bei der Armee positionierte, befand Bastian das weibliche Geschlecht für ungeeignet bezüglich eines Einsatzes beim Militär, woraus sich auf der Bühne ein wortreicher Konflikt zwischen den beiden entwickelte.
Gert Bastian, 1923 in München geboren, war im Zweiten Weltkrieg freiwillig als Offiziersanwärter in die Wehrmacht eingetreten, wurde an der Ostfront eingesetzt, wo er zum Kompanieführer aufstieg, und geriet mit Kriegsende in US-Gefangenschaft. 1956 trat er im Dienstgrad des Oberleutnants in die neu gegründete Bundeswehr ein. Zu jenem Zeitpunkt blickte er bereits auf ein bewegtes Leben zurück, während Petra gerade mal 11 Jahre alt war. Nachdem er das Kommando über eine Panzerdivision ausgeübt hatte, veränderte sich in den 1970er-Jahren Bastians Einstellung zum Militär radikal. Er wurde zum Pazifisten und bat 1980, da er die geplante Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa nicht mittragen könne, erfolgreich um die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand und schloss sich der Friedensbewegung an.
Kurz nach ihrem ersten Kennenlernen lud Gert Bastian Petra Kelly erfolgreich ein, den von ihm mitformulierten „Krefelder Appell“, der sich gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Europa positionierte, zu unterzeichnen. Somit zählte sie zu den ersten UnterstützerInnen der Initiative und in den kommenden Monaten sollten ihr mehr als vier Millionen BundesbürgerInnen folgen. Doch für Petra bedeutete der Kontakt zu dem Ex-General auch im privaten Bereich eine folgenreiche Veränderung. Erneut verliebte sie sich in einen erheblich älteren Mann und aus den offenbar äußerst ungleichen Persönlichkeiten wurde ein Paar.
Im gleichen Jahr stürzte sie sich in den ersten Bundestagswahlkampf für die neu gegründete Partei, wofür sie erneut unbezahlten Urlaub nahm. Doch trotz ihres unermüdlichen, kräfteraubenden Einsatzes erzielten die Grünen mit 1,5 % der Stimmen nur ein enttäuschendes Ergebnis.
Petra Kelly war nur vorübergehend ernüchtert und engagierte sich schon bald wieder fieberhaft für ihre Herzensthemen und politischen Ziele. Sie füllte als geachtete Rednerin Säle, konnte dabei stets mit einem schier unerschöpflichen Faktenwissen glänzen und sprach am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten auf der größten Demonstration, die die Bundesrepublik bis dahin gesehen hatte, neben dem Pastor und SPD-Politiker Heinrich Albertz, dem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, dem Sänger und Entertainer Harry Belafonte sowie Coretta Scott King, der Ehefrau des ermordeten Bürgerrechtlers Martin Luther King zu etwa 300.000 Menschen, die gegen die Stationierung von Atomraketen in Westeuropa und den sogenannten NATO-Doppelbeschluss protestierten.
Kelly arbeitete zu jener Zeit annähernd rund um die Uhr und hatte zudem bereits ihre Urlaubstage für das kommende Jahr „verbraucht“. Ein durchschnittlicher Arbeitstag bedeutete für sie bis 17 Uhr in Brüssel ihrer Bürotätigkeit nachzugehen, anschließend mit dem Schnellzug zu einem Vortrag, einer Diskussion, einer Sitzung oder Ähnlichem nach Deutschland zu reisen und nachts nach Brüssel zurückzukehren, um dort morgens um 9 Uhr wieder am Schreibtisch zu sitzen.
1982 wurde Petra Kelly eine große Ehre zuteil, als sie aufgrund ihres unermüdlichen Einsatzes für Frieden und Ökologie, Abrüstung, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte mit dem Right Livelihood Award, oft auch „Alternativer Nobelpreis“ genannt, ausgezeichnet wurde.
1985 trat Petra Kelly als Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Bayern an. Auch wenn ihre persönliche Bekanntheit und die Akzeptanz der Partei in der Bevölkerung stetig wuchsen, haderte sie mit der Situation bei den Grünen, die nach heutigen Vorstellungen die politische Arbeit gänzlich unprofessionell betrieben. Für den Wahlkampf hatte Kelly erneut unbezahlten Urlaub genommen und besaß kaum ausreichend finanzielle Mittel, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, weshalb sie die Partei bat, in der Zeit des Wahlkampfes für ein Existenzminimum aufzukommen. Dieses Ansinnen wurde von zahlreichen Parteimitgliedern argwöhnisch beäugt und nicht wenige mutmaßten, Kelly würde Starallüren entwickeln. Dieser Vorwurf verletzte sie. An eine Freundin schrieb sie: „Nach einer Hölle von Bundesvorstandssitzung bin ich jetzt am Ende meiner Seele. Zwei Tage voller Misstrauen und Hass und brutales Unterstellen – ich gehe so innerlich kaputt! Deine traurige Petra.“
Wie sehr die vergangenen Monate sie belastet hatten, offenbarte sich, als sie in München auf offener Straße zusammenbrach. Ein Taxifahrer nahm sich ihrer an und beförderte Petra Kelly in das nächstgelegene Krankenhaus, wo psychische und physische Erschöpfung sowie eine Verminderung der Hämoglobin-Konzentration im Blut (Anämie) diagnostiziert wurden.Schon bald darauf erlitt sie in Stuttgart eine Herzattacke und trug seitdem stets Notfallmedikamente bei sich. Es wurde ersichtlich, dass sie Raubbau an ihrem Körper betrieb.
Trotz medizinischer Bedenken setzte Petra Kelly den Wahlkampf engagiert fort. Die Grüne wurden schließlich in Bayern hinter der CSU und der SPD zur drittstärksten Partei, scheiterten aber dennoch mit beachtlichen 4,6 % knapp an der 5 %-Hürde, was Kelly sehr enttäuschte. Doch es war mittlerweile unverkennbar, dass die junge Partei zu einer ernst zu nehmenden Kraft in der deutschen Politik heranwachsen könnte, und Petra Kelly war das prominente Gesicht dieser Bewegung. Sie weckte Interesse, da sie etwas Neues in die Politik, die zu jener Zeit fast ausschließlich von Männern dominiert wurde, einbrachte. Sie war eine junge, attraktive und hochintelligente Frau, die radikal ihre Positionen vertrat und dabei liebenswert und sympathisch wirkte. Dass die Grünen zunehmend ernst genommen wurden, war auch daran erkennbar, dass sich die politischen Gegner formierten. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß sprach von einem „linksfaschistischen Hintergrund“ und allenthalben wurde gewarnt, die technologiefeindlichen Grünen würden die Entwicklung um 100 Jahre zurückdrehen wollen. Dass die von den Grünen propagierten alternativen Energiequellen in der Realität die Zukunft sein würden, erkannten damals nur die wenigsten.
In den nun häufiger werdenden Interviews prägt Petra Kelly den Begriff der „Antiparteienpartei“. Die Grünen sollten ein neuer Parteientyp sein, der aufklärt, kritisiert und mobilisieret, ohne auf politische Macht abzuzielen. Eine Regierungsbeteiligung strebte sie ausdrücklich nie an. Eine Auffassung, der nicht jeder in der Partei folgen wollte. Zum einen mögen die Verlockungen der Macht dabei eine Rolle gespielt haben, die Schwäche von Kellys Grundsatz bestand jedoch darin, dass die konkrete Verantwortung anderen zugeschoben wurde und der politische Gegner die Grünen stets als verantwortungsscheu darstellen konnte.
1982 besucht eine Journalistin Petra Kelly in ihrer geräumigen Brüsseler Wohnung und beschrieb diese wie folgt: „Tantragötter tummeln sich mit Hummelfiguren zwischen Gewebtem und Gedrechseltem, die Nofretete ist da und die betenden Hände. Auch Trachtenpüppchen, Tropfkerzen, Topfpflanzen, ein halbes Dutzend Harlekine und Muscheln und balinesische Marionetten. Seelen-Sperrmüll aus drei Jahrzehnten ist hier abgelagert. Auf freiem Sims und Sofatisch stehen gerahmte Familienfotos, selbst im Badezimmer. Es ist eine Wohnung, wie man sie sonst nur bei sehr alten Leuten findet: Heim und Höhle einer Besinnungssüchtigen, einer verhinderten Häuslichen. Bücherstapel ragen wie Stalagmiten vom Teppichboden auf, Schriften, Bildbände über alle Leiden und Ungerechtigkeiten dieser Welt, von Auschwitz und Hiroshima, bis Seveso und Harrisburg.“
Pressekonferenzen mit Petra Kelly entpuppten sich oftmals zu halbstündigen Monologen über das Übel der Welt. Sie litt öffentlich mit und teilte ihre subjektiven Empfindungen unmittelbar, ohne diese hinter der verklausulierten Sprache eines Berufspolitikers zu verbergen. Sich abzugrenzen fiel ihr spürbar schwer und ihr Idealismus schien grenzenlos, was ihr Umfeld mitunter als äußerst anstrengend empfand und mit Augenrollen quittierte. Selbst als sie bereits sehr prominent war, beantwortet sie jegliche an sie gerichtete Bittschreiben persönlich und war stets bemüht, dem Absender zu helfen. Es entstand der Eindruck, Petra Kelly habe es sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Welt zu retten.
Ihre oftmals langatmigen Ausführungen waren stets mit einem bemerkenswerten Wissensfundus untermauert, wie sich der mit Kelly befreundete russischer Schriftsteller Lew Kopelew erinnert: „Mich überraschten ihr phänomenales Gedächtnis, ihre außerordentlichen Kenntnisse und ihre rhetorische Fähigkeit. Sie brachte aus dem Stegreif ausführliche statistische Daten über Aufrüstung in West und Ost, über Atomkraftwerke, über die wirtschaftliche Situation in verschiedenen Ländern, kommentierte alles in druckreifen Sätzen und sprach in atemberaubendem Staccato.“
Mit ihrer Persönlichkeit, ihren Themen und ihrer Auffassung von Politik, ihrer Vorliebe für symbolische Aktionen, zu denen sie mutmaßlich von der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung inspiriert wurde, brachte Petra Kelly unabhängig davon, wie ihre politischen und gesellschaftlichen Positionen beurteilt wurden, einen frischen Wind in die deutsche Politik, die bis dahin weitestgehend von Herren in grauen Anzügen betrieben wurde. Doch würde sie sich mit ihren Eigenheiten dauerhaft in der Politik etablieren können? Anfang der 1980er-Jahre schienen die Zeichen dafür günstig zu stehen.