Elisabeth Selbert – Teil 3: Enttäuschungen und späte Ehrungen

(c) M. Graß
„Dieser Schalthebel, an dem ich gesessen habe,
der hat mich nicht immer glücklich gemacht.
Aber im Grunde genommen sind alle Reformen,
die inzwischen auf vielen Gebieten durchgesetzt worden sind, damals eingeleitet worden:
mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz im Grundgesetz.“
(Elisabeth Selbert)
„Heute, am 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes: Heute wird die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten. Wer die Jahre seit 1933 bewusst erlebt hat, der denkt bewegten Herzens daran, dass heute das neue Deutschland ersteht“, verkündete der zukünftige Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer feierlichen Sitzung am 23. Mai 1949. 15 Tage zuvor war nach zum Teil leidenschaftlichen Auseinandersetzungen der Entwurf des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom Parlamentarischen Rat mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen worden.
In den Folgejahren wurde oft und gerne von den „Vätern des Grundgesetzes“ gesprochen, wobei einem der CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Theodor Heuss oder der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer in den Sinn kommen mögen. Doch dass es auch „Mütter des Grundgesetzes“ gab, geriet alsbald in Vergessenheit. Neben Elisabeth Selbert waren ihre Fraktionskollegin Frieda Nadig sowie Dr. Helene Weber von der CDU und Helene Wessel von der katholischen Zentrumspartei gleichermaßen an der Verfassungsschöpfung beteiligt.
Elisabeth Selbert hatte sich mit ihrer Hartnäckigkeit hervorgetan, mit der es ihr gelang, dass der Artikel 3 Absatz 2 nach ihren Vorstellungen formuliert wurde: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes durfte fortan eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen nicht mehr vorkommen. Um sämtliche Gesetze, die diesem Gleichberechtigungsgebot widersprachen, anzupassen, wurde dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist bis zum Jahre 1953 eingeräumt. Doch es sollte sich zeigen, dass nahezu jeder Schritt hin zur realen Gleichstellung auf Widerstand stieß. Somit war die Verabschiedung des Grundgesetzes, die nach den eigenen Worten von Elisabeth Selbert ‚Sternstunde ihres Lebens‘ und zweifellos ein Meilenstein für unsere Gesellschaft, doch nur der Anfang einer jahrzehntelangen zähen Auseinandersetzung.
Nach ihrer erfolgreichen Tätigkeit im Parlamentarischen Rat strebte Selbert die Mitgliedschaft des ersten Deutschen Bundestags an, erhielt jedoch von ihrer Partei keinen eigenen Wahlkreis, sondern lediglich einen Platz auf der Landesliste. Dennoch war sie recht zuversichtlich, ein Abgeordnetenmandat zu erhalten und sah sich bereits nach einer Wohnung in Bonn um. Doch zu ihrer Enttäuschung fehlten ihr rund 200 Stimmen, um ihr Ziel, als gewählte Volksvertreterin in den Bundestag einzuziehen, zu erreichen.
Ähnlich groß war Elisabeth Selberts Ernüchterung darüber, dass nicht der SPD-Kandidat Kurt Schuhmacher, sondern Konrad Adenauer vom deutschen Volk zum Kanzler gewählt wurde. Die neue von der CDU und FDP gebildete Regierung blockierte das von ihr so leidenschaftlich vorangetriebene Thema „Gleichberechtigung“ fortan und ließ sogar die bis 1953 eingeräumte Frist verstreichen, ohne die notwendigen und juristisch unumgänglichen Anpassungen am Familienrecht vorzunehmen.
1951 erstand das Ehepaar Selbert ein Haus auf dem Brasselsberg, einem Stadtteil im Westen Kassels, das ursprünglich von einem NS-Funktionär errichtet wurde. Für den Sockel des Baus wurden Steine aus dem im Bombenhagel ausgebrannten Kasseler Justizgebäude verwendet. Dieser Ort entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zum zentralen Familientreffpunkt, zu dem an Sonntagnachmittagen Elisabeth Selberts Kinder und später ihre Enkelkinder zu Kaffee und Kuchen kamen.

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„Das Haus an Brasselsberg“
Es handelte sich um ein vergleichbar bescheidenes Haus. Elisabeth Selbert legte zeit ihres Lebens nie sonderlich viel Wert auf Statussymbole, so schaffte sie sich nach dem Einzug Möbel an und behielt diese bis zu ihrem Lebensende. Wichtig war ihr hingegen der etwa 2000 m² große Garten, in dem sie viele Zeit verbrachte, ihre Enkel später Staudämme im am Grundstück vorbeiführenden Mühlbach bauten und Beerensträucher und Obstbäume wuchsen, deren Früchte sich auf den Torten wiederfanden, die bei Familientreffen serviert wurden. Diese buk Elisabeth jedoch nicht selbst, sondern sie wurden von Elisabeths Großnichte Anneliese, die 1962 in das Haus einzog und fortan den Haushalt führte und eine enge Freundin von Elisabeth wurde, angefertigt.
Nach den erfolgten Rückschlägen in der Bundespolitik erlangte Elisabeth Selbert im Anschluss an ihre Tätigkeit im Parlamentarischen Rat, bei der sie sich gewiss nicht nur Freunde gemacht hatte, selbst in der hessischen Kommunalpolitik keine bedeutende Rolle mehr. Der Eindruck drängt sich auf, dass Politik zu jener Zeit Männersache war und diese die zu vergebenden Posten unter sich aufteilten. Auch ihre angestrebte Nominierung als Richterin des Bundesverfassungsgerichts, ein Amt, für das sie aufgrund ihrer Klugheit, ihres Scharfsinns sowie ihrer außerordentlichen sprachlichen Klarheit prädestiniert schien, scheiterte aufgrund fehlender Unterstützung ihrer eigenen Partei.
Konsterniert und verärgert nahm Elisabeth Selbert zur Kenntnis, dass auch nach dem 31.03.1953, dem Ablauf der Frist für die notwendigen gesetzlichen Anpassungen, der Mann das Entscheidungsrecht in sämtlichen Eheangelegenheiten behielt, allein über das Vermögen, auch über das seiner Ehefrau, verfügte sowie das Arbeitsverhältnis seiner Gattin selbst gegen deren erklärten Willen kündigen konnte. Diese Bestimmungen widersprachen eklatant der Verfassung und wurden erst 1957, fast 10 Jahre nach der Aufnahme der Gleichberechtigung in das Grundgesetz, außer Kraft gesetzt.
In der abschließenden Lesung war unter den Abgeordneten ausgiebig und leidenschaftlich diskutiert worden. Die Debatte wurde mit einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion, die an dem Letztentscheidungsrecht des Mannes festhalten wollte, eröffnet, wogegen sich die Vertreter von SPD und FDP aussprachen. Nach langer Debatte wurde der CDU/CSU-Antrag knapp abgelehnt. Doch die Stimmung blieb aufgeladen, da Kanzler Adenauer seine Fraktion bezüglich weiterer drohender Veränderungen im Familienrecht auf einen ablehnenden Kurs eingeschworen hatte, während die Oppositionsfraktion der SPD mehrheitlich weitergehende Änderungen in Richtung mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern befürwortete. Doch bei Fragen der Erziehung blieb das Vorrecht des Mannes zunächst bestehen.
Angesichts dieser ernüchternden Erfahrungen gab Elisabeth Selbert ihren Geschlechtsgenossinnen mit auf den Weg, „sich stärker politisch zu organisieren und zu engagieren, um die Gleichberechtigung in steigendem und in erforderlichem Maße durchzusetzen. Wir können dies nicht von den Männern erwarten – das ist Frauensache“.
Elisabeth Selbert sei sicherlich keine Großmutter gewesen, wie man sich als Kind eine Großmutter vorstelle, erinnert sich Enkelin Susanne Selbert. Sie habe ihr nicht das Häkeln und Stricken beigebracht, wie man einen Apfelkuchen backt oder einen köstlichen Braten zubereitet. „Aber erwachsen geworden, stelle ich fest, wie viel Bedeutsames sie uns mitgegeben hat. Dazu gehören insbesondere Einsatz für die demokratischen Grundprinzipien, Engagement für soziale Gerechtigkeit sowie Toleranz und Mut“, erinnert sich Susanne Selbert.
Was Elisabeth ihrer Enkelin bewusst oder intuitiv vermitteln wollte, fiel offenbar auf fruchtbaren Boden, denn Susanne Selbert ist heute eine engagierte SPD-Politikerin, Landesdirektorin des Landeswohlfahrtsverbands Hessen, hat wie ihre Großmutter Rechtswissenschaft studiert und als Rechtsanwältin gearbeitet.
Ebenfalls Anwalt und Kommunalpolitiker, jedoch bei der Partei Die Linke, ist Axel Selbert, der neben fünf Enkeltöchtern einzige Enkelsohn von Elisabeth und Adam Selbert. Er denke gerne an die Weihnachtsfeste, bei denen die gesamte Familie und somit bis zu 15 Personen im Haus am Brasselsberg zusammenkamen, zurück. Axel Selbert erinnert sich, dass er von seinen Großeltern einen Holzbauernhof und ein Jahr darauf eine elektrische Eisenbahn geschenkt bekam. Seiner Großmutter sei es wichtig gewesen, dass Weihnachtslieder gesungen wurden und die Kinder Krippenspiele aufführten. Ein gemeinsamer Kirchenbesuch hätte zu Weihnachten hingegen nicht stattgefunden. „Ich habe keine besondere Religiosität an meiner Großmutter ausmachen können“, bemerkt Axel Selbert.
Er erinnere sich auch an die zahlreichen politischen Debatten, die er mit seiner Großmutter über den Vietnamkrieg und das Thema Kriegsdienstverweigerung geführt habe.
Mit ihrer Auffassung von Demokratie und der Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten sei die Großmutter für ihn ein Vorbild gewesen. Auch wenn die Einstellungen ihrer Enkelkinder zuweilen nicht mit ihrer eigenen übereingestimmt hätten: „Sie ist damit nicht ins Gericht gegangen“, betont Axel Selbert.
Ende der 1950er Jahre zog sich Elisabeth Selbert aus der Politik zurück, konzentrierte sich fortan auf ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin und bezog mit ihrer auf Familienrecht spezialisierten Kanzlei Räumlichkeiten in der Fünffensterstraße, die sie bis zu ihrem 85. Lebensjahr führte.

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Einstige Kanzlei in der Fünffensterstraße
Von ihrer Partei, der SPD, hatte ihr die notwendige Unterstützung, um in der Politik Karriere zu machen, gefehlt. Neben dem Amt einer Verfassungsrichterin wäre Elisabeth Selbert auch für den Posten der Bundesjustizministerin infrage gekommen, doch womöglich entsprach sie nicht dem seiner Zeit vorherrschenden Frauenbild. Sie war unbestreitbar kompetent, scharfsinnig und schlagfertig, aber ein charmantes Lächeln ersetzte bei ihr nie das Sachargument. Sie scheute nicht, für die Erreichung ihrer politischen Ziele pragmatisch überparteiliche Verbündete zu gewinnen, was in der SPD nicht uneingeschränkt geschätzt wurde und wirkte, auch wenn ihre Nachkommen sie privat anderes erlebt haben, unnahbar, unbeirrbar, streng und kopfgesteuert. Ihre Enkel erinnern sich hingegen an eine Großmutter, die auch im hohen Alter noch mit ihnen Federball spielte, ihren Garten pflegte, die Hühner fütterte und abends genüsslich ein Glas Rotwein trank. Von ihrem großen politischen Erfolg habe er nichts gewusst, erinnert sich Axel Selbert. „Dass sie wichtige Aufgaben zu erledigen hatte, wurde mir als kleinem Jungen nur am Rande bewusst.“
Für ihre Verdienste wurde Elisabeth Selbert 1956 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet… und geriet schon bald darauf nahezu in Vergessenheit.
Ihr Ehemann Adam Selbert, der nach dem Krieg ein anerkannter hessischer Kommunalpolitiker war und beim Landeswohlfahrtsverband Hessen zum Landesrat berufen wurde, verstarb 1965.
Von nun an wurde Großnichte Anneliese zu Elisabeths engster Gefährtin. Noch zu Lebzeiten von Adam hatte sich das Ehepaar einen Opel Olympia angeschafft und da beide keinen Führerschein besaßen, überzeugten sie Anneliese, die Fahrerlaubnis zu erwerben. Mit dem Auto gingen Elisabeth und Annelise nun häufig auf Reisen. Die Ziele lagen zumeist in Österreich und Italien. Hinter den Sitzen lag stets eine kleine Schaufel bereit, da sich die Pflanzenliebhaberin Elisabeth mit Vorliebe Sträucher von den Fahrten mitbrachte, die sie mitunter am Rande der Legalität ausgrub. Ihre Hoffnung, die Pflanzen würden auch im heimischen Nordhessen ihre prächtige Blütenpracht entfalten, wurde mitunter enttäuscht, was sie stets mit einem lapidaren „Einen Versuch war´s wert“ quittierte.
1969 erhielt Elisabeth Selbert den zwei Jahre zuvor von der Stadtverordnetenversammlung gestifteten Wappenring der Stadt Kassel, mit dem Personen, die sich um die Stadt verdient gemacht haben, geehrt werden. Etwa 10 Jahre später wurde ihr die Wilhelm-Leuschner-Medaille, die höchste Auszeichnung des Landes Hessen, verliehen.

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Wilhelm-Leuschner-Medaille
Doch als in den 1970er-Jahren die Debatten über die Zukunft des Ehe- und Familienrechts aufkamen, war Elisabeth Selbert als Fachfrau auf diesem Gebiet weitestgehend in Vergessenheit geraten. Weder wurde sie um Rat gefragt, noch brachte sie sich selbst in die politische Diskussion ein.
Dennoch wird es sie gefreut haben, als 1977 endlich das „Zerrüttungsprinzip“ das „Verschuldungsprinzips“ im Scheidungsrecht ersetzte, was Elisabeth Selbert bereits ein halbes Jahrhundert zuvor in ihrer Dissertation gefordert hatte. Bislang war jener Ehepartner, der die Scheidung maßgeblich verschuldet hatte, dem anderen Partner sowie den gemeinsamen Kindern gegenüber unterhaltspflichtig. Von nun an sollte der wirtschaftlich stärkere Partner unabhängig von einer festzustellenden Schuld dem wirtschaftlich schwächeren Unterhalt zahlen.
Mit der Ende der 1970er-Jahre aufflammenden außerparlamentarischen Frauenbewegung konnte sich Elisabeth Selbert nicht anfreunden und urteilte schonungslos: „Die Feministinnen mit ihren gerichtlichen Klagen gegen nackte Frauen auf Titelseiten von Illustrierten – das sind doch Nebenkriegsschauplätze. In die Parlamente müssen die Frauen! Dort müssen sie durchsetzen, was ihnen zusteht.“ Unduldsam ging sie mit ihren Geschlechtsgenossinnen ins Gericht: „Ein ganz schreckliches Kapitel, dass die Frauen in den Parlamenten so unterrepräsentiert sind. Sie haben doch, ganz anders als früher, alle Rechte. Sie können sich darauf berufen. Sie müssen sich durchsetzen! Es ist mir ganz und gar unbegreiflich, warum sie es nicht tun, Doppelbelastung hin oder her.“
In den 1980er-Jahren wurde von den Gewerkschaften die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen thematisiert. Elisabeth Selbert war enttäuscht, dass selbst 30 Jahre nach dem maßgeblich von ihr formulierten Grundgesetzartikel, der die Gleichheit der Geschlechter unmissverständlich festschreibt, die Realität noch weit von dem Postulat entfernt war. „Es steht völlig außer Zweifel, dass die Differenzierung der Entlohnung von Frau und Mann grundgesetzwidrig ist… verfassungswidrig!“
Elisabeth Selberts Kanzlei befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kasseler Rathaus, einem prächtigen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Neorenaissancestil errichteten Bau, der bis zum heutigen Tage von zwei goldenen hessischen Löwen bewacht wird. Im Vorhof betrachte ich ein unscheinbares Mahnmal, das von vielen Passanten womöglich übersehen wird, da es sich kurioserweise vornehmlich unterhalb des Asphalts befindet.

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Rathaus Kassel
1908 hatte der jüdische Industrielle Sigmund Aschrott, der den heutigen Stadtteil „Vorderer Westen“ geschaffen und der Stadt mehrere Grundstücke geschenkt hat (s. Teil 2), einen repräsentativen Brunnen gestiftet, der an diesem Ort errichtet wurde. Das Bauwerk nahm die Formensprache des Rathauses auf, war mit floralen Ornamenten sowie vier Wasser speienden Widderköpfen verziert und wurde von einer 12 Meter hohen Sandsteinpyramide gekrönt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der monumentale Brunnen als „Judenbrunnen“ diffamiert und schließlich von einer Gruppe Kasseler Bürger am 9. April 1939 zerstört.

gemeinfrei
Der ursprüngliche „Aschrottbrunnen“, 1908
In den 1980er-Jahren kamen Diskussion um eine würdige Umgestaltung der deformierten Anlage auf. Der Kasseler Magistrat beschloss, die gewünschte Neugestaltung nach dem Entwurf des in der Stadt lebenden Künstlers Horst Hoheisel zu verwirklichen, bei dem es sich um ein negatives Abbild des ursprünglichen Brunnens, das kopfüber im Boden versenkt wurde, handelt. Das Wasser stürzt nun in der nicht sichtbaren 12 Meter langen Nachbildung der Pyramide in die Tiefe.
Die einstige, noch erhalten gebliebene Beckenumrandung ist vereinzelt und unregelmäßig um die Anlage, deren Grundriss von einem umlaufenden Wasserkanal nachempfunden wird, angeordnet. Ich betrete die begehbaren Metallgitter, unter denen das Wasser in die Tiefe fließt. Erst als ich das überwiegend unsichtbare Monument, um dessen Geschichte ich weiß, betrete, erkenne ich den Brunnen und begreife den Ort als stetige Erinnerung an etwas, das nicht mehr vorhanden ist. Horst Hoheisel formulierte es sehr treffend: „Das eigentliche Denkmal ist der Passant, der darauf steht und darüber nachdenkt, weshalb hier etwas verloren ging.“

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Der Aschrottbrunnen (Mahnmal)
Die Einweihung des Mahnmals hat Elisabeth Selbert noch erlebt, auch wenn es noch nicht zugegen war, als sie allmorgendlich von ihrer Großnichte Anneliese in die Kanzlei gefahren und an dieser Straßenecke abgesetzt wurde, um ihre Büroräume zu betreten, in denen sie einen respektvollen, aber auch distanzierten Umgang zu ihren Angestellten pflegte. Ein vertrautes „Du“ bot sie zwar nicht an, war jedoch an den persönlichen Verhältnissen und privaten Problemen der MitarbeiterInnen interessiert und offerierte im Rahmen ihrer Möglichkeiten stets fürsorgliche Unterstützung.
Sie arbeitete als Anwältin und Notarin bei vollkommener geistiger Frische bis zu ihrem 85. Lebensjahr, bis ein Augenleiden (Grauer Star), bei dem eine Operation nicht die erhoffte Verbesserung brachte, ihr Berufsleben beendete. Sie konnte fortan nicht mehr lesen und stricken, worunter sie sehr litt.
Neben einigen Freunden waren mittlerweile sämtliche ihrer Geschwister verstorben. Allmählich wurde es einsamer in Elisabeth Selberts Leben.
Seit 1983 vergibt die Hessische Landesregierung im Zweijahresrhythmus „in Anerkennung hervorragender Leistungen für die Verankerung und Weiterentwicklung von Chancengleichheit von Frauen und Männern“ den Elisabeth-Selbert-Preis. Traditionell wird die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung vom hessischen Ministerpräsidenten persönlich verliehen. Bei der ersten Vergabe war Elisabeth Selbert anwesend. Betagt, aber geistig hellwach, war ihre Freude darüber, dass dieser Preis fortan mit ihrem Namen verbunden wird, erkennbar.
Ein Jahr darauf und damit erstaunlich spät wurde Elisabeth Selbert zur Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt Kassel ernannt. Sie war mittlerweile 88 Jahre alt und ihr körperlicher Zustand verhinderte eine Zeremonie im Rathaus, weshalb diese zu ihr nach Hause verlegt wurde.
Trotz dieser späten Ehrungen bleibt der Eindruck bestehen, dass Elisabeth Selbert zu Lebzeiten nie die angemessene Anerkennung für ihr wegweisendes Engagement erhalten hat. Sie starb am 9. Juni 1986 im Alter von 89 Jahren und liegt neben ihrem Ehemann auf dem Friedhof in Kassel / Niederzwehren begraben.

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Grab von Elisabeth & Adam Selbert
Etwa 2 km südlich des Friedhofs gleitet mein Blick über weite Felder, als ich in der Ferne zwei eigentümliche, helle Kuppeln erblicke, die den Eingang zu einem weiteren Friedhof, dem „Niederzwehren Cemetery“, auf dem Soldaten des britischen Commonwealth ihre letzte Ruhe gefunden haben, bilden.

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Eingangsbereich des Niederzwehren Cemetery
Als ich zwischen den beiden Pavillons, in denen das Totenregister sowie das Kondolenzbuch verwahrt werden, hindurchtrete, folgt mein Blick unwillkürlich der Sichtachse und trifft auf den altarartigen, mit der Inschrift „Their Name Liveth For Evermore“ versehenen „Stone of Remembrance“ sowie das auf einer Anhöhe emporragende monumentale „Cross of Sacrifice“.

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„Stone of Remembrance“ / Niederzwehren Cemetery
Ich stehe auf dem Boden des einstigen, während des Ersten Weltkrieges behelfsmäßig errichteten und mit einem doppelten Stacheldrahtzaun umgebenen Kriegsgefangenenlagers Niederzwehren, auf dem 1915 ein Friedhof angelegt wurde, nachdem unter den bis zu 20.000 unterernährten Gefangenen eine durch die entsetzlichen hygienischen Verhältnisse hervorgerufene verheerende Typhusepidemie ausgebrochen war.

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Niederzwehren Cemetery
Die von einer etwa einen Meter hohen Mauer umfasste streng geometrische Anlage, wirkt klar geordnet und akkurat gepflegt. Außer mir befinden sich gegenwärtig zwei fleißige Gärtnerinnen auf dem Areal und ich kann aus dem Augenwinkel beobachten, wie eine der beiden einen Maulwurfshügel verschwinden lässt. Dieses geschieht nicht mithilfe einer Schaufel, wie ich diese Aufgabe, in dem auf Erfahrung beruhenden Wissen, dass in wenigen Tagen wortwörtlich „Gras über die Sache gewachsen“ sein wird, in meinem heimischen Garten erledige. Was mir in wenigen Sekunden gelingt, nimmt hier 10 Minuten in Anspruch, da die Dame den Erdhügel akribisch von Hand abträgt – mit dem von mir respektvoll begutachteten Resultat, dass an der betreffenden Stelle keinerlei Spur mehr auf die Existenz eines Maulwurfs hindeutet. Ich komme mit der Gärtnerin ins Gespräch und sie erklärt mir, dass der Friedhof von der Commonwealth War Graves Commission, einer Organisation, die der deutschen Kriegsgräberfürsorge ähnele, errichtet und bis heute betreut werde. Man habe damals das Ziel verfolgt, die während des Ersten Weltkrieges in Deutschland gefallenen oder verstorbenen Soldaten, auf zentralen Friedhöfen zu bestatten, wovon einer der wenigen hier in Niederzwehren errichtet wurde.

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Niederzwehren Cemetery
Ich gehe an den mit kleinen, bepflanzten Beeten versehenen Grabreihen entlang und erkenne auf einigen der insgesamt 1783 Grabsteine aus hellem Kalkstein die Wappen der Regimenter, den Dienstgrad, den Namen sowie das Alter des Verstorbenen. Um die Gleichheit im Angesicht des Todes zu symbolisieren, wurde beim Errichten der Grabsteine auf die Anordnung nach Herkunft oder Dienstgradgruppen bewusst verzichtet.

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Niederzwehren Cemetery
Es ist ein Ort, der gänzlich im Gegensatz zu seiner Vergangenheit eine bemerkenswerte Ruhe und Harmonie ausstrahlt. Zwitschernde Vögel, die ahnungslos in den nebenliegenden Bäumen ein friedliches Zuhause gefunden haben, übertönen beinahe das monotone Rauschen der nahe gelegenen Autobahn. Ich lese die eingravierten Inschriften einzelner Grabsteine. So auch jene von J.B. Dunn, einem „Second Lieutenant der Royal Airforce“, der im Alter von 19 Jahren gestorben ist und gewiss noch viele Pläne und Ziele für sein Leben geschmiedet hatte.

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Niederzwehren Cemetery
Erfreulicherweise konnte Elisabeth Selbert auf ein erfülltes Leben zurückblicken, als sie im Alter von 89 Jahren in Kassel verstarb. Die Trauerrede hielt der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner, der Selbert eine „Hoffnung für Millionen von Frauen“ nannte, die „uns ein verpflichtendes Erbe hinterlassen hat.“
In der Tat ist Elisabeth Selberts Vermächtnis noch nicht erfüllt, denn auch wenn der Auftrag des Grundgesetzes dank ihres Engagements mit unmissverständlicher Klarheit formuliert ist, wurde die postulierte Gleichberechtigung in den folgenden Jahrzehnten in der Bundesrepublik weitgehend ignoriert. Die bis zum heutigen Tage bestehende Lohnungleichheit ist ein wesentliches Element, das einer Gleichstellung von Frauen und Männern entgegensteht. In Deutschland liegt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern aktuell bei 18 Prozent und selbst bei gleicher Qualifikation beträgt er noch immer sechs Prozent. Frauen sind am Arbeitsmarkt offenkundig nach wie vor deutlich benachteiligt.
Die Gleichberechtigung im Namensrecht wurde erst Anfang der 1990-er Jahre realisiert, nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits 1976 entschieden hatte, dass die bisherige Regelung, bei der die Frau mit der Hochzeit zwangsläufig den Namen des Mannes annahm, gegen Artikel 3 des Grundgesetzes verstößt. Doch erst etwa 15 Jahre später ermöglichten es die Gesetzgeber, dass bei einer Heirat beide den jeweiligen Geburtsnamen beibehalten können, was laut einer aktuellen Statistik der Gesellschaft für deutsche Sprache nur etwa zwölf Prozent der Paare in Anspruch nehmen und lediglich sechs Prozent den Namen der Frau annehmen.
1994 ergänzten Bundesrat und -tag den Artikel 3 des Grundgesetzes um einen Auftrag: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Doch trotz dieser scharf formulierten Aufforderung fällt für Stefanie Nutzenberger, Bundesvorstandsmitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) die Evaluation nach 25 Jahren ernüchternd aus. „Das Grundgesetz legt fest, dass der Staat tatsächliche Gleichberechtigung aktiv voranbringen muss. Leider hat die Politik in der Realität diesen Auftrag aber sträflich vernachlässigt.“
Die von Elisabeth Selbert so vehement geforderte Beteiligung von Frauen in den Parlamenten lässt noch immer zu wünschen übrig. Eine paritätische Sitzverteilung in den Volksvertretungen findet sich in der Bundesrepublik lediglich in einigen wenigen Gemeinderäten, während in den Kammern auf Landes- oder Bundesebene an keinem Ort eine geschlechtergerechte Verteilung der Mandate erreicht wird. Im Deutschen Bundestag liegt der Frauenanteil bei 31 % und in den Länderparlamenten bewegt sich der Anteil der weiblichen Abgeordneten zwischen 27 % in Bayern und 43 % in Hamburg.
Ein außerordentlich beschämendes Kapitel auf dem Weg zur Gleichberechtigung unter den Geschlechtern ist die jahrzehntelange Debatte um die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, die erst seit 1997 als ein Verbrechen gilt.
1966 und somit mehr als anderthalb Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes hatten Richter des Bundesgerichtshofs formuliert, was ein deutscher Ehemann von seiner Ehefrau erwarten darf: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.“
Nach langjährigen Debatten, die sich über gut zwei Jahrzehnte hinzogen, unter anderem weil es im Bundestag für eine dringend erforderliche Gesetzesänderung keine Mehrheit gab, regte sich ab den 1980-er Jahren, mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag, Widerstand gegen die bestehende Gesetzeslage. „Mit uns nie“, hatte Edmund Stoiber (CSU) noch 1990 bei den Koalitionsverhandlungen unmissverständlich erklärt, als FDP-Politiker befürworteten, die Vergewaltigung im Ehebett unter Strafe zu stellen.
Doch vergleichbar mit der von Elisabeth Selbert 40 Jahre zuvor angefachten Initiative bildete sich mit den Grünen, der SPD, den Landfrauenvereinen, den katholischen Frauenverbänden und der CDU-Frauenunion eine Bewegung, welche die CDU-Zentrale mit eindringlichen Briefen überschwemmte. Die entfachte Wirkung war enorm. In der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP drohten derart viele – vorrangig weibliche – Abgeordnete damit, gegen die Parteiraison zu stimmen, dass der regierende Bundeskanzler Helmut Kohl keine andere Möglichkeit sah, als den Fraktionszwang bei der Abstimmung aufzuheben.
Vor dem entscheidenden Votum im Bundestag erfolgte eine emotionale Debatte im Parlament, während der Rednerinnen und Redner aller Parteien den historischen Schritt zur Ächtung sexueller Gewalt betonten. Schließlich wurde mit 470 zu 138 Stimmen bei 35 Enthaltungen die vorgeschlagene Gesetzesänderung angenommen. Zu den prominenten Politikern, die dagegen votierten, zählten unter anderem der spätere Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder, der damalige Gesundheits- und spätere Innenminister Horst Seehofer sowie der heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz.
Zum 125. Geburtstag wurde Elisabeth Selbert in ihrer Heimatstadt Kassel mit einem Denkmal geehrt. Die von der nordhessischen Bildhauerin Karin Bohrmann-Roth geschaffene und vom Soroptimist International Club Kassel, einer sich für Frauenrechte einsetzenden Vereinigung, gestiftete lebensgroße Bronzestatue wurde am 21. September 2021 an der Brüderkirche von Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier enthüllt und noch am gleichen Tag an den für sie vorgesehenen Ort versetzt. Aus Sicherheitsgründen fanden die Feierlichkeiten an einem für die Personenschützer gut abschirmbaren Ort statt. Nun steht die Statur auf dem Scheidemannplatz, unweit der ehemaligen Kanzlei von Elisabeth Selbert, wo sie am Abend des 21.Septembers ein zweites Mal enthüllt wurde.

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Elisabeth-Selbert-Denkmal
Ich trete an die Figur heran und blicke in das ernste, laut ihrer Enkelin gut getroffene Gesicht von Elisabeth Selbert und ihre entschieden blickenden Augen. „Sie war offenbar nicht sehr groß“, denke ich mir und diese Tatsache will das Denkmal auch nicht verschweigen. „Die Skulptur wird nicht auf einem Sockel stehen, sondern wird ebenerdig platziert, auf Augenhöhe mit den Menschen“, erläutert Renate Matthei, Gründerin des weltweit einzigen Musikverlages, der ausschließlich Musik von Frauen verlegt und derzeitige Präsidentin des Soroptimist International Club Kassel. Es entspräche dem Wesen Elisabeth Selberts, nicht von oben herab auf ihre Mitmenschen zu schauen.

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Elisabeth-Selbert-Denkmal
Eva Schulz-Jander, Mitglied des Soroptimist Clubs, äußerte sich zu der Bedeutung der Statur: „Mit ihr wollen wir das Vermächtnis von Elisabeth Selbert ehren und auch größere Aufmerksamkeit auf sie richten in der Öffentlichkeit. (…) Die Statur soll Mädchen, aber auch Jungen, Frauen und Männer ermuntern, sich einzumischen, sich politisch zu engagieren, zu kämpfen für Visionen.“
Elisabeth Selbert hat demonstriert, dass es sich lohnt, für Ziele zu kämpfen und nicht von seinen Idealen abzurücken, aber auch dass Hartnäckigkeit vonnöten ist, um starre Ansichten zu durchbrechen.
Bezüglich ihrer Tätigkeit im Parlamentarischen Rat und ihres dortigen Erfolges resümierte sie: „Ohne enthusiastisch werden zu wollen, aber wenn ich ehrlich bin, als den Höhepunkt meines Lebens, abgesehen von der Geburt meiner Kinder, abgesehen von einer glücklichen Ehe, war das doch der Höhepunkt meiner Tätigkeiten in Politik und Beruf; denn ich saß plötzlich an einem Schalthebel. Dieser Schalthebel, an dem ich gesessen habe, der hat mich nicht immer glücklich gemacht. Aber im Grunde genommen sind alle Reformen, die inzwischen auf vielen Gebieten durchgesetzt worden sind, damals eingeleitet worden: mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz im Grundgesetz.“
Lieber Mario, gerne habe ich deine Geschichte über Elisabeth Selbert gelesen.
Wie du weisst bin ich immer begeistert wenn du etwas Neues ankündigst.
Elisabeth Selbert war eine bemerkenswerte Frau. Doch auch die Artikel über
Liebermann, den Wiener Zentralfriedhof oder Rio Reiser haben mich begeistert.
Ich mag deine Art Dinge zu vermitteln.