Eine Vollmondnacht mit Pina Bausch
Teil 1
„Es gibt keine Illusionen in Wuppertal,
und das hat auch etwas Positives, Schönes und Wichtiges.“
(Pina Bausch)
Zwei Männer stehen versunken am Ufer eines schmalen Flusses, auf dessen Wasseroberfläche sich das fahle Licht des Vollmondes spiegelt. Leicht federn sie in den Knien, als würden ihre Körper das ruhige Fließen des Wassers in sich aufnehmen. Die Bewegungen werden intensiver. Ihre Arme beginnen zu schwingen und entlocken somit den leeren Plastikflaschen, die sie in ihren Händen halten, sanfte, vibrierende Töne, als aus der nächtlichen Dunkelheit zwei weitere Männer auftauchen, die lange Holzstöcke durch die nächtliche Luft peitschen und damit einen weitaus schärferen Klang erzeugen. Musik ertönt, der sich die Leiber der Anwesenden offenbar nicht entziehen können. Sie geraten in Bewegung und Sekunden später peitschen ihre Körper selbst, angestachelt von treibenden Beats, durch die Luft. Musik liegt in der Luft … Musik ist Bewegung … Musik ist Tanz …

Wuppertaler Opernhaus – © Mario Graß
So beginnt das Stück „Vollmond“ von Pina Bausch, das am 11. Mai 2006 hier in Wuppertal uraufgeführt wurde und das ich heute Abend, 7 Jahre später, an gleicher Stelle besuche.
Aber sollte sich die eben beschriebene Szene tatsächlich in Wuppertal zugetragen haben? Ausgerechnet in Wuppertal, jener 350.000 Einwohner-Stadt, südlich des Ruhrgebietes, deren Name wie ein Schluckauf klingt und die in der jüngeren Vergangenheit zum Symbol für verschuldete Kommunen und Haushaltssperren geworden ist? Ausgerechnet Wuppertal … 1929 durch Vereinigung der beiden Städte Elberfeld und Barmen gegründet, trägt die Stadt erst seit 1930 den Namen „Wuppertal“, der überdeutlich und wenig originell, ihre geografische Lage verrät. Von steilen Hängen und Hügeln gesäumt, windet sich die Wupper, an deren Ufer sich zumindest in Vollmondnächten offenkundig solch surreale Dinge abspielen können, durch das Stadtgebiet. Dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in dieser Stadt aufhalte, sagt bereits einiges aus über die Vorurteile, die zumindest ich gegenüber Wuppertal hege und vermutlich wäre es selbst zu diesem erstmaligen Besuch nicht gekommen, wenn denn hier nicht das, zumindest in Fachkreisen, weltberühmte Tanztheater beheimatet wäre, das nach der legendären Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Pina Bausch, die hier in Wuppertal lebte, arbeitete und verstarb, benannt wurde. In der Fachwelt gilt sie als die wohl wegweisendste Choreografin unserer Zeit und in Fankreisen als Kultfigur. Durch die Verknüpfung von Tanz mit anderen Genres wie Schauspiel, Pantomime, Gesang und Artistik revolutionierte sie nicht nur das Tanztheater, sie schuf gleich eine gänzlich neue Kunstgattung.
Im Wuppertaler Opernhaus beleuchtet weiterhin einzig der Vollmond das Geschehen auf der Bühne. Sein Licht fällt auf den finsteren Fluss, den Felsbrocken, der sich am rechten Bühnenrand erhebt und auf die Akteure, auf die er einen geradezu betörenden Einfluss auszuüben scheint. Sie rennen und springen, küssen und necken sich, halten sich fest und lassen sich wieder los. Diese Ausgelassenheit vermischt sich mit einer sehnsüchtig-klagenden Stimmung, die über der gesamten Szenerie zu schweben scheint. Weit breiten die Tänzer ihre Arme aus, schauen nach oben, wollen größer werden, die ganze Welt umfassen, statt nur das Gegenüber. Der eigene Körper scheint nicht auszureichen.

Straßenzug Wuppertal – © Mario Graß
Allein die geografische Lage Wuppertals birgt bereits das Thema „Enge“ in sich. In einer Senke gelegen und umschlossen vom bergischen Hügelland und von mit Bachläufen durchzogenen Wäldern, die womöglich auch der Ort des Geschehens der Vollmondnacht sein könnten, fiel es in dieser spezifischen Lage seit jeher schwer sich auszudehnen, was den hier 1863 gegründeten Bayer-Konzern einst dazu veranlasste, ins nahegelegene Leverkusen, das damals genaugenommen noch genauso wenig existierte wie Wuppertal, auszuweichen. Die Lage bringt zudem ungewöhnlich steile, enge Straßen mit sich, die Wuppertal den Beinamen „San Francisco Deutschlands“ eingetragen haben.
Als ich im Verlaufe des Nachmittags durch jene Straßen spaziert bin und die Stadt ein wenig erkundet habe, ist mir eine weitere Besonderheit aufgefallen. Die Stadt wirkt zusammengesetzt. Es ist kein eindeutiges Zentrum erkennbar, keine Richtung, in die es Menschen und Straßen zieht, keine Richtung, in die das Leben strebt. Ein Eindruck, der nicht täuscht, denn Wuppertal ist in der Tat einst aus mehreren Einzelstädten und -dörfern zusammengefügt worden und diese Geschichte spiegelt sich bis heute deutlich im Stadtbild wieder.
So wurde das Wuppertaler Opernhaus 1905 noch als „Staatstheater Barmen“ errichtet und weist eine wechselhafte Geschichte auf. Im Zweiten Weltkrieg wurde es weitestgehend zerstört, später wieder aufgebaut, erneut geschlossen, renoviert und grundsaniert und neu eröffnet. Als der damalige Intendant der Wuppertaler Bühnen 1973 Pina Bausch als Leiterin der Ballettsparte gewinnen konnte, ahnte wohl noch niemand, dass dieser Schritt dem Haus eine weitere umwälzende Neuerung bescheren würde. Wer Pina Bausch einmal in einem Interview erlebt hat, kann sich gut vorstellen, wie zögerlich sie auf dieses Angebot reagiert haben mag. Sie wird vermutlich lange geschwiegen haben. Den Kopf leicht wiegend, zu einer Zigarette gegriffen und dabei die grauen Augen aus tiefen Höhlen forschend auf ihr Gegenüber gerichtet haben. Kaum denkbar, dass sie „Ja“ oder „Nein“ geantwortet hat, eher „vorstellbar“ oder „muss man mal sehen“, unterbrochen von einem leicht verlegenem Lachen und einem tiefen Zug an der Zigarette.
Das Gespräch wird sich, wie all ihre Gespräche, lang in die Nacht hinein gezogen haben, – „noch ein Weinchen, noch ein Zigarettchen“ hieß es viel später in Pinas Stück „Walzer“ – bis sie schließlich zustimmte. Pina erhielt völlige künstlerische Autonomie und was dem kulturell interessierten Wuppertaler Publikum in den nächsten Jahren geboten wurde, hatte zunehmend weniger mit Ballett im klassischen Sinne zu tun.
Heute Abend herrscht „Vollmond“ auf der Bühne des Opernhauses und dieser entfaltet weiterhin seine enthemmende Wirkung. Das Bühnengeschehen dreht sich um Liebe, um das Küssen, um die Sehnsucht nach einem Partner und auch um das möglichst schnelle Öffnen von BHs. Die Tänzer kreisen dabei um die Frage des Abends: „Was ist besser – eine große Liebe, mit allem Drum und Dran, alles auf einmal, oder lieber ein bisschen Liebe jeden Tag?“
Klicke hier um einen Berichte zum aktuellem Programm des Tanztheaters Wuppertal zu lesen
Klicke hier um einen Bericht zur Spielzeiteröffnung 2013/2014 zu lesen
Ist so schön zu lesen, freue mich auf mehr.
Liebe Grüße Ute R.
Vielen Dank & herzlichen Gruß zurück.