Wim Wenders: „Beim Filmen bin ich ein Geschichtenerzähler. Beim Fotografieren erzähle ich nichts, sondern die Landschaft erzählt mir eine Geschichte.“
Zur Eröffnung seiner Ausstellung in der Blain|Southern Galerie in Berlin, bei der neue und erst kürzlich entstandene Fotografien präsentiert werden, erscheint Wim Wenders mit leichter Verspätung. Irgendwo in seiner Wahlheimat Berlin sei eine Bombe entdecktworden, weshalb mehrere Straßenabschnitte abgesperrt werden mussten, was ein mittleres aber für die Hauptstadt nicht ungewöhnliches Verkehrschaos mit sich gebracht habe, heißt es. Ich nutze die Zeit und betrachte die ausgestellten Fotografien. Ich blicke auf karge, menschenleere, verlassene Landschaften. Ähnlich wie ich scheint Wim Wenders eine Schwäche für scheinbar unperfekte Umgebungen zu besitzen. Man wird vermutlich ebenso lange auf ein Fotopanorama aus seiner Hand, auf dem ein Südseestrand mit Palmen und azurblauem Meer zu sehen ist, warten müssen, wie ich darauf, eine solche Umgebung entspannt genießen zu können.
Ähnlich wie bei Wenders-Filmen wird es zweifelsohne Menschen geben, die sich bereits nach wenigen Sekunden dem nächsten Bild zuwenden, da auf dem soeben betrachteten nichts geschehe oder zu sehen sei. Doch nimmt man sich die Zeit und begibt sich gedanklich in die abgelichtete Umgebung, stellt man fest, dass dort eine ganze Menge passiert oder passiert ist. Ich betrachte ein riesiges Foto einer amerikanischen Landschaft. Die Weite, die Farben aber auch die Gleichgültigkeit, die sie ausstrahlt, ist beeindruckend und übt eine enorme Sogwirkung auf mich aus. Doch ich werde aus meinen Gedanken gerissen.
„Herr Wenders ist da“, heißt es und schon betritt er, bekleidet mit einer Jogginghose, Sportschuhen, einer Kapuzenjacke und auffallend blauen Socken, entspannt und lächelnd die eindrucksvoll hohen Galerieräumlichkeiten.
Mir ist Wim Wenders bislang in erster Linie als einer der herausragendsten Regisseure des Deutschen Films bekannt, doch neben dieser Tätigkeit, bei der er in der Vergangenheit ungeheuer atmosphärische Kinofilme geschaffen hat, arbeitet der Künstler seit Langem auch als Fotograf, dessen Arbeiten seit 1986 weltweit in Museen und Galerien ausgestellt werden. Für Wim Wenders ist die Fotografie gar ein gleichwertiger Teil seines künstlerischen Schaffens. „Ich bin seit 30 Jahren zur Hälfte meines Berufslebens Fotograf.“
Die Fotografien zeigen die aus seinen Filmen bekannte Handschrift und weisen eine vergleichbare Poesie und Suggestionskraft auf. Auf den ersten Blick scheint Wim Wenders zu fotografieren wie er filmt, doch er selbst sieht erhebliche Unterschiede zwischen seiner Arbeit als Filmemacher und jener als Fotograf. „Beim Filmen bin ich ein Geschichtenerzähler. Landschaften spielen in meinen Filmen zwar immer eine große Rolle, oftmals sind sie sogar der Ursprung der erzählten Geschichte, wie beispielsweise bei „Himmel über Berlin“, aber dann treten sie doch eher in den Hintergrund, vor dem die Geschichte erzählt wird. Bei der Fotografie stelle ich die Landschaften in das Zentrum. Beim Fotografieren erzähle ich nichts, sondern die Landschaft erzählt mir eine Geschichte.“
Doch es gibt noch weitere Unterschiede zwischen seinem Schaffen als Fotograf und dem als Filmemacher. „Ich war mit meinen Filmen der Erste, der digital und jetzt auch in 3D gearbeitet hat. Da interessiert mich die neue Technik für das Erzählen des Films sehr. Beim Fotografieren bin ich aber der letzte Mohikaner“, sagt Wenders, denn beim Fotografieren greife er vorzugsweise auf eher altmodische Verfahren zurück. Seine digitalen Kameras habe er im Laufe der Zeit verschenkt, weil er nichts mit ihnen anzufangen wusste. Stattdessen fotografiere er mit zwei analogen Kameras, einer Fuji 6 x 17-Panoramakamera und einer Plauble 6 x 7. „Analoge Fotografie ist intimer, was die Beziehung zu einem Ort betrifft. Bei der digitalen Fotografie stört mich schon, dass ich das Resultat auf dem Bildschirm sehen kann.“ Wie seine Bilder geworden sind, erfahre er erst Wochen später, nach der Entwicklung des Films.
Er fotografiere ohne Kunstlicht und ohne Stativ erklärt er. Ihm sei es wichtig „aus der Hand“ zu fotografieren. Ein Stativ gäbe zu viel vor, diktiere zu viel. Zudem liebe er es, mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein, da er beim Fotografieren keinen Assistenten dabei habe. „Beim Fotografieren muss ich ganz alleine sein“, verrät er.
Auch verzichtet Wenders auf die mittlerweile gängige Nachbearbeitung seiner Fotos. „Mich interessiert es nicht Landschaften zusammenzusetzen oder einen Himmel durch einen anderen zu ersetzen. Auch dies ist ein Unterschied zum Filmen, wo ich ja mit allen möglichen Tricks arbeite. Beim Fotografieren will ich den Ort zeigen wie er ist … und wenn man eine Stunde warten muss, damit sich das Licht verändert, wird das Bild dadurch umso kostbarer.“
Nachdem er zunächst viel in schwarz-weiß fotografiert habe, sei er mittlerweile ausnahmslos zur Farbfotografie gewechselt. Augenzwinkernd bemerkt Wenders, dass es eine perfekte Arbeitsteilung zwischen ihm und seiner Frau gäbe. „Meine Frau fotografiert in schwarz-weiß und vor allem Menschen. Ich fotografiere seit 1983 ausschließlich in Farbe und warte bis die Menschen aus dem Bild verschwunden sind.“
Wim Wenders will offenbar keinen falschen Eindruck aufkommen lassen und stellt klar: „Ich habe nichts gegen Menschen. In meinen Filmen geht es ja um Menschen und da arbeite ich mit ihnen vor der Kamera. Aber das Problem beim Fotografieren ist, dass sobald ein Mensch im Bild zu sehen ist, egal wie klein oder wie sehr im Hintergrund, ist er trotzdem sofort der Mittelpunkt. Der Betrachter projiziert sich in diesen Menschen und sieht die Landschaft aus dessen Perspektive. Die Landschaft tritt zurück.“ Zudem gäbe es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Landschaften und Menschen. „Landschaften sind wie Menschen, sie haben einen Charakter, sie haben eine Tagesform.“
Anhänger rühmen bei Wenders Filmen die erzählerische Ruhe, die Zeit, die er sich nimmt, um eine Geschichte zu erzählen. Seine atmosphärischen, poetischen Fotografien strahlen nahezu ausnahmslos ebenso eine große Ruhe aus und wirken geradezu entschleunigt. Darauf angesprochen bemerkt Wenders, dass die Entschleunigung fast eine zwangsläufige Begleiterscheinung der Fotografie sei. „Das fängt schon damit an, dass ich zu Fuß unterwegs bin. Da ich analog fotografiere, mache ich oft nur 2 oder 3 Fotos. Das ist ganz anders als bei der digitalen Fotografie. Ich lasse mich auf den Ort ein und dazu muss ich mich ganz leer machen … nicht mehr auf mich achten, denn ich will nichts in den Ort hineintragen. Das alles braucht Zeit.“
Doch obwohl Wim Wenders bei seinen fotografischen Arbeiten die Landschaften so sehr in den Mittelpunkt stellt, kommt er zu einer überraschenden Aussage. „Ich bin eigentlich kein Landschaftsfotograf. Mich interessiert weniger die Landschaft, sondern mich interessieren die Spuren, die Menschen hinterlassen haben. Mich interessiert, was die Landschaft über uns Menschen erzählt.“ In der Tat – als ich vorhin die Aufnahme der amerikanischen Landschaft betrachtet habe, konnte ich genau diese Erfahrung machen. Aus einer auf den ersten, oberflächlichen Blick idyllischen, völlig lautlosen Situation, entfalten sich nach und nach, zunächst nur ahnbar, dann leise flüsternd und schließlich immer drängender Geschichten, Schicksale, Erfahrungen und Lebensumstände.
Auch als ich auf die lang gezogenen Furchen eines Brandenburger Spargelfeldes bei Beelitz blicke, entdecke ich erst nach einiger Zeit in der Ferne am gegenüberliegenden Waldrand ein kleines, rotes Toilettenhäuschen. „Diesen roten Farbklecks fand ich für das Bild wichtig und es ist natürlich auch kurios, dass in einem Wald ein Toilettenhäuschen steht“, erklärt Wenders. Aber es erzähle auch etwas über den weiten Weg, den man dorthin zurücklegen müsse.
Auf einer weiteren Fotografie, The Elbe River near Dömitz (2014), ist die Elbe von dem anderen Ufer aus zu sehen als vor 40 Jahren in seinem Film „Im Lauf der Zeit“. „Der Film begann damit, dass ein Auto in den Fluss fuhr“, erinnert sich Wenders. „Die Elbe war damals der Grenzfluss zwischen der BRD und der DDR. Die Gegend war im Grunde Niemandsland. Die Grenzer auf der anderen Seite haben uns damals gefilmt und ich wollte die Stelle wiederfinden und schauen, was die damals gesehen haben… und ich habe sie gefunden.“ An der einstigen von Wachtürmen und Stacheldrahtzäunen geprägten Landschaft, mit dem unablässig zwischen Ost und West dahinströmenden Wasser, sind zwei leicht Bekleidete am Ufer zu erkennen. Es ist eines der wenigen ausgestellten Fotos, auf denen Menschen zu sehen sind, die ich jedoch erst erkenne, als ich nah genug an das Bild herantrete. Ein Mann in kurzer Sporthose wendet sich soeben vom Fluss ab. „Der geht wahrscheinlich Bier holen“, spekuliert Wim Wenders und stellt fest: „Der Filmtitel „Im Lauf der Zeit“ hat noch eine überraschende Relevanz bekommen.“
Auf weiteren Fotografien werden facettenreiche Geschichten aus Deutschland und Amerika erzählt. Ein riesiger Salzberg ragt über einer gespenstisch stillen Stadt, eine durchlöcherte Kinoleinwand steht ausgemustert und verlassen herum, eine Frau sitzt allein am Ende der Theke einer amerikanischen Bar, ein Flugzeugwrack liegt vor der Kulisse der bizarren roten Felsformationen im Monument Valley und eine surrealistisch anmutende Briefkasten-Siedlung in einer kargen Hochebene in Montana verrät, dass irgendwo in dieser Einöde Menschen leben, die von irgendwoher Post erhalten … oder zumindest darauf hoffen.